// Startseite // Buchkritik // 

Friedrich Achleitner: und oder oder und

Wien: Zsolnay Verlag, 2006. 109 S.; geb.;

Rezension vom 28.02.2006 im literaturhaus.at
www.literaturhaus.at/index.php

"der inhalt ist der feind jedes textes"

Im Gespräch über Literatur beschränkte sich H.C. Artmann auf das Wesentliche. Friedrich Achleitner gab er einmal zu einem seiner Texte den Rat: "Geh, das A putzt' aber aus". Womit er den Schriftsteller auf das verwies, worauf es beim Schreiben ankommt: Buchstaben, Schrift, Sprache. Sie sind das Material, aus dem Geschichten gemacht werden. Die Bau-Steine, auf die ein Sprach-Architekt wie Achleitner - in seiner Doppelexistenz als schreibender Baumeister in buchstäblichem Sinne - angewiesen ist.


Ohne Steine kein Haus, "und ohne schrift geht gar nichts", wissen auch die "männer" der gleichnamigen Geschichte aus Achleitners neuem Kurzprosaband "und oder oder und". Sie kommen nicht heraus aus der eigenen abgeschlossenen Wirklichkeit des Textes: "wir sind nur buchstaben, und unsere existenz hängt von einem schreiberling ab." Deshalb ist es, das hat der Leser zwei Texte vorher in "geschichte oder waggon" gelernt, nicht egal, ob wir uns in einer Geschichte oder in einem "real existierenden waggon" befinden.


Womit wir schon mittendrin wären: in Achleitners Geschichten. Kurze Texte, nie mehr als eine Seite lang, in denen der Autor die Sprachmaterialität bearbeitet, um die texteigene Wirklichkeit sichtbar werden zu lassen. "ich seh so gern beim machen von geschichten zu" - das Motto seiner 2003 erschienenen "einschlafgeschichten" ist Programm: In bewusst gewählter Distanz zum Erzählvorgang beobachtet sich der Autor beim Entstehungsprozess permanent selbst. Eine Art "making of" des Schreibens. Womit wir mittendrin und zugleich schon wieder draußen sind: aus Achleitners Geschichten.

Wovon handeln sie denn nun eigentlich, die genau einhundert Kurzprosastücke in "und oder oder und"? Von nichts. Jedenfalls nach dem gängigen Begriff von Erzählung. Denn "die konvention verlangt nach einer handlung", einem Inhalt. Beides gibt es bei Achleitner im landläufigen Sinne nicht. Sein erklärtes Ziel: "ich möchte geschichten ganz ohne inhalt schreiben, ganz leichte, die wie ein fisch im stehenden wasser schweben." Seine Themen? Eine hintersinnige Unterhaltung der Konjunktion "und" mit dem Bindewort "oder". Geschichten darüber, wie man dem Zufall mit dem Zufall begegnet, oder wie ein Ritter nur mehr erwacht, um sein Ende festzustellen. Sowie ironische Essays über die Hochform der Abfahrtsläufer am tiefsten Punkt oder über die Mode der "Ava", der Abkürzungen voll ausgesprochen.

"der inhalt ist der feind jedes textes," Handlung überflüssig. Was bleibt? Form und Bewegung. Auch und gerade mit Sprachdynamik und Formgebung lässt sich Spannung erzeugen, so der Autor. Auch "die harmlose bewegung zweier daumen um ein nichts" kann jede Sekunde zur Ewigkeit machen. Ein Nunc-stans-Erlebnis, das Achleitner mit beinahe jeder seiner Geschichten erreicht. Durch formvollendete Prosafiguren, in Kreis-, Pendel- oder Spiralbewegung gestaltet und höchst musikalisch konstruiert. Oft treibt der Sprachdialektiker Achleitner die Gegensätze schalkhaft aufeinander zu, bis sie sich gegenseitig aufheben. Mal bläst der Wortkomiker die Bedeutungen auf, bis sie in einer unvermittelten Pointe platzen. Mal befragt der Kommunikationsphilosoph die Wörter so lange auf ihren Unsinn, bis sich alle Sinnfragen in sanfter Komik auflösen. Mit Schmunzeln wendet Achleitner die Redewendungen gegen ihren Gebrauch, konfrontiert die Sprache mit sich selbst und die Erzählung mit den Bedingungen des Erzählens.

"Er könne eigentlich keine Geschichten erzählen", meinte Achleitner einmal in einem Interview für die Literaturzeitschrift Wespennest. Er hat Recht. Seine Texte sind vielmehr intermediale Kompositionen - ganz in der Tradition der Wiener Gruppe, deren Mitglied Achleitner war. Die Sprache ist hier mehr als nur Bedeutungsträger auch visuelles und akustisches Gestaltungsmaterial. Genau darin liegt der besondere sinnliche Reiz der inhaltlich manchmal ganz alltäglichen, oft aber intellektuell akrobatischen und abstrakten Wahrnehmungs-, Denk- und Sprachspiele Achleitners. Es sind Prosaminiaturen für alle Sinne. Ihre perfekt ausgearbeiteten Figuren und ihre dynamische Rhythmik verlangen geradezu nach der Stimme eines Rezitators, zeichnerischer Darstellung und musikalischer Vertonung. Ganz unprätentiös laden die Texte aber auch einfach nur zum Nachdenken, Lachen, Grübeln und Schmunzeln ein. Mit minimalem Aufwand und aphoristischer Kürze erreicht Achleitner dabei den maximalen Effekt: intellektuell herausfordernd zu erzählen, brillant zu unterhalten und nachhaltig zu bewegen.

|