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„Des wird a Dichta“ – lyrische verbarien von H.C. Artmann

H.C. Artmann: Sämtliche Gedichte. Hrs. Klaus Reichert. Jung und Jung 2003, 800 Seiten.

unveröffentlichter Originaltext

„Des wird a Dichta“, hatte die Mutter bereits in ihrer Schwangerschaft prophezeit. Sie sollte Recht behalten. Der 1921 als Sohn eines Schuhmachermeisters im Wiener Stadtteil Breitensee geborene Hans Carl Artmann war früh entschlossen, sowohl Dichter als auch Rebell zu werden. Der erste rebellische Impuls: Als Hauptschüler beginnt Hans Carl, sich mit exotischen Sprachen zu beschäftigen. „Assyrisch habe ich mit vierzehn angefangen, und Malaiisch ...“ Frühe dichterische Experimente folgen: Schon als Fünfzehnjähriger versucht er sich unter dem Pseudonym John Hamilton an Detektivgeschichten.

Bekannt wird H.C. Artmann mit der 1958 erschienenen Sammlung makabrer Wiener Dialekt-Gedichte „mit ana schwoazzn dintn“. Häufig genug reduziert auf seine Wiener Dialekt-Dichtung, rückt Artmanns übriges umfangreiches poetisches Schaffen allerdings oft in den Schatten. Nicht zuletzt deshalb, weil viele seiner Gedichte verstreut und zeitversetzt veröffentlicht wurden und sogar lange Zeit vergriffen waren. Um so verdienstvoller ist die posthum – der Autor starb 2000 im Alter von 79 Jahren – erschienene Neuausgabe der sämtlichen Gedichte H.C. Artmanns in einem handlichen Dünndruck-Band im Verlag Jung und Jung. Herausgegeben von Klaus Reichert, entspricht die Ausgabe jener Sammlung, die der langjährige Freund und Lektor noch gemeinsam mit dem Autor und nach dessen Vorstellungen konzipiert hat – ergänzt durch den später entstandenen Band „Von der Wollust des Dichtens“ und verstreuten Einzelfunden.

In den „Sämtlichen Gedichten“ versprechen schon die Gedichttitel geballtes poetisches Potential: Mit „zimt & zauber“ besingt Artmann „das prahlen des urwaldes im dschungel“ und geht dem „nachtwindsucher“ auf die Spur. Er holt „flaschenposten & erweiterte poesie“ und andere „lyrische verbarien“ „aus meiner botanisiertrommel“. Surreale Themen, phantastische Gedichte „auf meine klinge geschrieben“. Überbordende Kreativität, aber scheinbar ohne erkennbare poetische Botschaft. Ist Artmann ein „sprachfex und tausendsassa / der sich halt einen jux machen will“? Nein: Das Spiel mit Andeutungen ist System. Aber warum so viel Unausgeführtes? Warum nur Angedeutetes? Warum nur Versprechungen? – „Warum denn nicht? Eine eindeutige antwort soll nicht gegeben werden, weil sprache festlegt; jeder leser mag jedoch für sich herausfinden, was diese texte ihm persönlich an möglichkeiten anbieten.“ Die Offenheit ist Methode.


Aber wovon sprechen nun die Gedichte, diese „Vorfabrikate an Worten und Erscheinungsketten, Erfahrungsbrocken, abgegrenzt und in der Abgegrenztheit spontan und versehen mit dem Reiz des Spontanen“? Was ist Artmanns Thema? Was ihn fasziniert, so Artmann in seinem Vortrag in der Berliner Akademie der Künste 1967, sind „die voluminösen Einzelheiten dieses täglichen Daseins“. Dabei gelten alle Details, ob Erhabenes oder Banales, gleich viel. Das „mirakel der nebensächlichkeit“ ist besonders anschaulich und eindringlich in Artmanns „österreichischen haikus“ zu Gedichten geworden: XXV. // die glühwürmchen ah! // schau gnomenlampione // schwirren im garten.


Artmann versucht in seinen Gedichten, „die strahlenden Momentaufnahmen winziger Dinge (...), abgesprungene, isolierte Details im Strahlenglanz ihrer leuchtenden Faktizität (...) und alles in der wertfreien Gleichzeitigkeit des Daseins“ festzuhalten. Bei diesem Vorhaben bedient sich Artmann eines bewusst „erweiterten“ Sprachmaterials, in das er nicht nur alles Sprech-, Druck- und Hörbare, sondern auch andere Nationalprachen – Artmann befasste sich mit über 26 Sprachen – mit einbezieht. Denn, so der Sprachvirtuose Artmann über seine Lyrik, „ich rede nicht von meinen Gefühlen; ich setze vielmehr Worte in Szene und sie treiben ihre eigene Choreographie.“ H.C. Artmann spielt auf seinem Wortinstrumentarium und bringt die Sprache, mal in „hohem lyrischem Ton“, mal im Wiener Straßen-Dialekt, zum Klingen. Er setzt immer neue Sprachmasken auf und deklamiert in wechselnden Sprechweisen. „Kuppler und Zuhälter von Worten“ nennt der Autor sich. Artmann weiß, die Sprache hat ihre eigene Dynamik und lässt sich nur begrenzt vom Dichter formen und „domestizieren“, „denn Worte haben eine bestimmte magnetische Masse, die gegenseitig nach Regeln anziehend wirkt; sie sind gleichsam ‚sexuell‘, sie zeugen miteinander, sie treiben Unzucht miteinander, sie üben Magie, die über mich hinweggeht.“

Seine lyrische Sprechweise ist dennoch immer kunstvoll und die Gedichte mit hohem formalem Anspruch arrangiert. Das betrifft nicht nur den Einsatz von Sprachrhythmus und Versmaß. Außerdem beherrscht Artmann die Adaption verschiedenster historischer lyrischer Formen und poetischer Stilmittel. Ob er in „neun epigrammata in teutschen alexandrinern“ mit schwerem Basso Continuo zum barocken Totentanz aufspielt oder in „vergänglichkeit & auferstehung der schäferei“ die Hirtenflöte zur anakreontischen Schäferidylle bläst: Zentral ist der „poetische act“, „die pose in ihrer edelsten form“. Mit Ironie wird jede neue Rolle „starkbewußt extemporiert“ und im nächsten Moment schon wieder gewechselt. Als Exempel ein barocker Alexandriner: VII. // auf den todt alß ein mauß-fallen // fort / fort das samtgewand / fort / perlen & corallen / // ach / für ein jenseits wallen wäre leinewand zu viel / // am tag der mause fallen / nackt / wie sichs ziemt / ins ziel / // wirfft dich die große hand geschickt aus ihren crallen ...

Diese Vielfältigkeit des Autors, die in Ernst Jandls Laudatio auf den Dichter charakterisierte „Beweglichkeit des Punktes Artmann auf der literarischen Karte, sein dauerndes Entgleiten ebenso wie seine Fähigkeit zu plötzlichem Auftauchen an mehreren Stellen zugleich“ ist vielleicht das Beständigste in Artmanns Lyrik. An diesem Punkt treffen sich Dichter und Rebell. Denn was charakterisiert die Rebellion stärker als das immer wieder neu auf die Probe stellen des gerade Entwickelten? Vielleicht ist es genau das, was Artmanns „Rebellische Dichtung“ auszeichnet, ihr permanentes Experimentierstadium: „Mir geht es (...) verdammt noch mal um das stete Experiment (...) Wenn ich etwas geschrieben habe (...) und das Experiment ist da, (...) dann möchte ich mich nicht wiederholen.“

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