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... und es liegt doch am Meer

Christoph W. Bauer: In einer Bar unter dem Meer. Erzählungen. Haymon Verlag 2013. 232 Seiten.

Rezension vom September 2013 im literaturhaus.at
http://www.literaturhaus.at/index.php?id=10122&L=-1\%27

Eine einzige Sekunde reiche aus für einen Richtungswechsel, denkt Rosa. Genau mit diesem Gedanken hat für sie ein anderes Leben begonnen. Ein Gedanke von der Wucht eines Faustschlags ins Gesicht der Normalität. Normal ist in Christoph W. Bauers neuen Erzählungen, wenn saure Gurken vorm abendlichen Fernseher die Liebe ersetzen und die Sehnsucht im Bahnhof schon vor der Tafel mit den Abfahrtszeiten endet.

Wie wäre es dagegen, fragt der Erzähler, mit Absicht den Zug in die falsche Richtung zu nehmen, sich mit fremdem Gesicht noch einmal in die eigene Frau zu verlieben oder als splitternacktes Happening im Tannertschok die internationale Kunstwelt in Aufregung zu versetzen. Das klingt so spektakulär und irreal wie der Beginn einer Liebesgeschichte In einer Bar unter dem Meer? Genau so nennt Christoph W. Bauer seinen neuen Prosaband. Seine These: Was ist realistischer als jene Bilder, die die Schatten der Träume auf unsere Seelen zeichnen.

"Wer nie über den eigenen Schatten springe, wisse nicht, dass er einen habe", hören wir den Professor aus einer der Erzählungen. Ein Satz, der den passionierten Museumswärter Lunz just nach seiner Achtstundenschicht dazu veranlasst, mit den gesamten Tageseinnahmen loszuziehen, um endlich den Lebenstraum seiner soeben verstorbenen Frau wahrzumachen und damit nach Venedig zu reisen. Obwohl die Reise mit seiner Festnahme endet, bevor sie begonnen hat, glückt ihm, was nicht allen Figuren der Erzählungen gelingt: aus der Rolle zu fallen. Und zwar im buchstäblichen Sinn. Frei nach dem Motto "eine einzige Sekunde reicht aus für einen Richtungswechsel" hängt er seine schon als Kind ersehnte Museumswärteruniform an den Haken.

Schließlich erfüllen alle Figuren in den Erzählungen die unterschiedlichsten Rollenklischees. Ob als Zugreisender, der immer schnellstmöglich von einem zum anderen Ort zu fahren hat - warum steigt er eigentlich nie am Durchfahrtsort aus? Ob als Ladenbesitzerin, dauertolerant gegenüber dem Straßenmusiker mit seinem Fünf-Lieder-Repertoire zu den großen Themen der Menschheit - warum hat sie nicht schon längt seine Gitarre zerschlagen? Ob als Formularprüfer bei der Versicherungsanstalt - warum hat er nicht schon vor Jahren das Füllen der Ablagen Ungültig und Zur Weiterleitung freigegeben verweigert.

Wie sehr jede Rolle nichts mehr als eine Attrappe ist, zeigen am besten die Geschichte von Murr, der sich im Supermarkt  ein Hemingway-Gesicht mietet oder Der Fall Branzer. Morgens hängt Branzer sich einen Hausmeisterkittel um, tauscht ihn später gegen den Maurer-Look ein, um sich nachmittags als shoppender Normalbürger zu verkleiden. Keinen der Berufe übt er wirklich aus. Er stellt sie lediglich dar, um Mietern, Immobilieninteressenten und Käufern Aktivitäten vorzutäuschen. Engagiert von Vermietern, Immobilienspekulanten und Geschäftsleuten. Lächerlich? Das soll es auch sein. Wo die Rolle zum Selbstzweck wird, zeigt die Maske sich als Teil einer großen Komödie. Das ganze Leben ein Rollenspiel. Die oft eher unfreiwilligen Rollenwechsel können auch surreale oder psychedelische Formen annehmen. Wie in Samsas Erben, wo ein ängstlicher Passagier in der Wartezone des Flughafens plötzlich seine Füße in verhassten Sandalen stecken sieht, die kinderbeinhoch über der Erde baumeln. Kafkas Figur Gregor Samsa, der eines Morgens als überdimensionaler Käfer aufwacht, lässt grüßen.

Und die Liebe? Scheint eine Rolle, die irgendwie keiner der Figuren so recht passen will. Die Liebenden in Bauers Geschichten jedenfalls driften meist wie zufällig aufeinander zu und dann meilenweit aneinander vorbei. Wieder allein träumen sie vom Wiedersehen "in einer Bar unter dem Meer".

Christoph W. Bauer stellt seine Figuren als Akteure in einem Spiel dar, das sie selbst für unabänderlich halten. In Wahrheit reicht eine einzige Sekunde für einen Richtungswechsel. Genau das zeigt Bauer in seinen Erzählungen. In einer Bar unter dem Meer ist ein literarisches Plädoyer für den poetischen Ungehorsam und den Mut, das Unmögliche wenigstens ab und zu für wahr zu halten - frei nach dem Motto des Erzählbandes aus Bachmanns legendärem Gedicht Böhmen liegt am Meer.

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