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Staunen bewahrt das Geheimnis

 

John Berger: Ein Geschenk für Rosa. Hanser 2018. 160 Seiten.

Sendung vom 20.08.2018 im Deutschlandfunk, Moderation Jan Drees

Beitrag hören (Zitate gesprochen von Franz Laake, DLF-Sprecherensemble)


John Berger, 1926 in London geboren, war Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker. Er starb 2017 in Paris, nur wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag. Zuvor lebte er lange Jahre in einem Bergdorf in der Haute Savoie. John Berger schrieb zahlreiche Essaybände, Gedichte und Romane. Bereits 1972 wurde er dafür mit dem Booker Preis ausgezeichnet. Um nur einige Titel zu nennen: „Gegen die Abwertung der Welt“ (Essays, 2003), „Hier, wo wir uns begegnen“ (2006), „A und X. Eine Liebesgeschichte in Briefen“, (2010), „Bento‘s Skizzenbuch“ (2013) oder „Der Augenblick der Fotografie“ (Essays, 2016). Jetzt erscheint „Ein Geschenk für Rosa“. Es ist das letzte Buch, das John Berger vor seinem Tod veröffentlichte. Ein literarischer Nachruf, der auf einhundertsechzig Seiten fast alles enthält, was Bergers Denken und Schreiben ausmacht. In zwölf für Berger typischen Texten zwischen Prosa, Poesie und philosophischem Essay.


Beim Lesen von John Bergers letztem Buch vor seinem Tod „Ein Geschenk für Rosa“ überkommt einen ein seltsames Gefühl. Es ist, als lese man die veröffentlichten Briefe eines bereits verstorbenen guten Freundes an einen selbst. Als flüstere dieser dem Leser geheime Botschaften ins Ohr, die sich zwar an alle richten, jedoch für ihn ganz persönlich bestimmt sind. Genau das erlebt der Erzähler in der Geschichte „Die roten tenda von Bologna“:

 

Es gibt hier eine bestimmte Stelle, wo sich zwei Arkaden unter einer Kuppel kreuzen. (…) Es ist ein Übergangsort. (…) es gibt hier ein akustisches Phänomen. Man könnte es »das geflüsterte Rufen« nennen. (…) Wenn du an einer bestimmten Säule lehnst und diagonal durch das Oktogon zu der gegenüberliegenden, korrespondierenden Säule schaust und dort zufällig jemand stehen sollte, dann kannst du mit ihm oder er mit dir reden, (…) ganz gleich wie viele Menschen zwischen euch hindurchlaufen, und niemand sonst wird eure Worte vernehmen (…).

 

Lange, aber nicht vergeblich, habe er hier auf seinen toten Onkel Edgar gewartet, um noch einmal seine Stimme zu hören, so der Erzähler. Die tiefsten Geheimnisse des Lebens, das hatte sein Onkel ihm beim Reisen gezeigt, sind gerade in den einfachsten Dingen zu finden. Wie eben den „roten tenda von Bologna“, die typischen Markisen in einem besonderen Rot. Die Erinnerung an den skurrilen Onkel bildet nicht zufällig den Schluss von insgesamt zwölf Geschichten. Der buchstäbliche „Nachruf“ des reiselustigen Lebenskünstlers formuliert John Bergers eigenes literarisches Vermächtnis. Die Kernbotschaft: Wenn man sich anschaue, was uns auf natürliche Weise umgebe, sei man bereits im Reich des Unendlichen. Denn Sehen bringt einen in direkten Kontakt mit der unendlichen Komplexität des Seins, so Berger. Das Mysterium des Alltags liege nicht etwa hinter den Dingen verborgen, sondern auf ihrer Oberfläche. Es sei ihre Textur, die etwas über den „genetischen Code“ verrate. Einen Code, der alles Lebendige miteinander verbindet. In seiner Geschichte „Über die Wachsamkeit“ beobachtet der Erzähler beim Schwimmen aus dem Fenster einen Silberahorn:


Die Kontur des Baumes mit seinen vielen aufstrebenden Ästen gleicht der Form eines seiner Blätter (…). Das Ahornblatt erinnert an eine Vogelfeder. (…) Gefiedert zu sein – das scheint dem Ahorn eingeschrieben. (…) Ich nehme mir vor, (…) eine Zeichnung von dem Baum zu machen: einmal sein ganzer Umriss und auf der gleichen Seite eine Detailskizze von einem einzelnen Blatt. So wird mein Stift (…) auf gewisse Weise dem genetischen Code des Ahorns folgen. Heraus käme so etwas wie der Text des Silberahorns. (…) Solche Texte sind in einer Sprache ohne Worte formuliert. Schon seit unserer frühesten Kindheit können wir sie lesen, und doch habe ich keine Namen dafür.


John Berger liest die Dinge als Text. Der Erzähler hat die Aufgabe, ihre non-verbale Botschaft in Sprache zu übersetzen, um sie zum Leser zu transportieren. Als Dichter sieht er sich nicht in erster Linie als Schöpfer, sondern als Überbringer einer Nachricht. John Berger trägt damit das Erbe seines Onkels weiter. Und bewegt sich in der Nachfolge Spinozas. Im Pantheismus Spinozas sind Materie und Ideen, Körper und Geist, ist alles und jeder mit allem und jedem verbunden. Mit „Bento’s Skizzenbuch“ über Spinozas nicht erhaltene Zeichnungen hat der 86-jährige John Berger ihm sein poetisches Denkmal gesetzt. Zeichnen steht hier stellvertretend für die „Kunst zu sehen“. In der Vermittlung der „Kunst zu sehen“ sieht Berger die urspünglichste Aufgabe von Kunst überhaupt. Kunst kann zeigen, „Wie man einem Zustand der Vergesslichkeit entgeht“, so der Titel einer weiteren Geschichte aus „Ein Geschenk für Rosa“. Wo es heißt:

 

In den letzten Wochen habe ich gezeichnet, meist Blumen (…). Ich fragte mich, ob man die Formen in der Natur – ein Baum, eine Wolke, ein Fluss, ein Stein, eine Blume – als Botschaften betrachten oder wahrnehmen kann. Botschaften, die selbstredenderweise nicht in Worten abgefasst werden können und sich nicht speziell an uns richten. Ist es möglich, die Erscheinungen der Natur als Texte zu »lesen«? (…) Diese Übung hat für mich nichts Mystisches.

 

Kunst beschränkt sich bei Berger nicht nur aufs tägliche Zeichnen. Sie umfasst für ihn gerade auch Alltägliches. Wie die Kunst der Wachsamkeit, die Kunst, Motorrad zu fahren oder die „Kunst zu fallen“. Bei der Suche nach Strukturen und Mustern, die Dinge miteinander verbinden, greift für John Berger keine Hierarchie. Alles ist gleich bedeutsam: von der Streichholzschachtel mit Vogelmotiv in seiner politischen Biografie Rosa Luxemburgs über das Fest der Aale im italienischen Fischerort bis hin zum Lebenskunstwerk eines Charlie Chaplins. Dem großen Komiker widmet Berger in „Einige Anmerkungen über die Kunst zu fallen“ hier eine persönliche Hommage:


Die Energie in Chaplins Sketchen wächst mit jedem Schritt, den er macht. Jedes Mal, wenn er fällt, kommt er als neuer Mensch auf die Füße. (…) Diese Vervielfachung erlaubt ihm, sich an der nächsten Hoffnung festzuhalten, obwohl er sich daran gewöhnt hat, dass seine Hoffnungen wieder und wieder erschüttert werden. (…) Diese Gelassenheit lässt ihn unverwundbar werden – unverwundbar, scheinbar bis zur Unsterblichkeit. (…) In Chaplins Welt wird das Lachen zum Spitznamen der Unsterblichkeit.


Kunst wird bei Berger zur Lebenspraxis, Leben zum Gesamtkunstwerk. Und zum Motor der Kritik an starren Hierarchien und gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen. Deshalb bedeutet Kunst für Berger auch Kampf für Gerechtigkeit. Rosa Luxemburg hat ihr Leben dafür gegeben. Mit der Titelgeschichte „Ein Geschenk für Rosa“ überreicht Berger ihr persönlich seine Erzählung als Präsent. Als gebe es weder Zeit noch Raum, die ihn von ihr trennten. Das entspricht John Bergers Überzeugung: Alles geschieht zur selben Zeit. Wie jedes Ding die Unendlichkeit in sich berge, enthalte auch jeder Augenblick einen Moment der Ewigkeit, so John Berger. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für ihn nur unterschiedliche Aggregatzustände ein und derselben Bewegung. Zeit verläuft für ihn nicht linear, sondern im Kreis, in dessen Mitte wir uns befinden. In der Geschichte „La lalala lalala la“ beschreibt Berger ein Mosaik in der Basilika Sant’Apollinare südlich von Ravenna:


Wenn du aufschaust und das gesamte Mosaik betrachtest, ist alles, was du siehst, reglos und still und gleichzeitig Teil der unablässigen Drehung im Raum.
Wenn man nur darauf achtet, wird so aus jeder Einzelheit – aus jedem Baum, jeder Blume oder jedem Schaf, aus jedem Stein oder Propheten, wo immer man das Detail auch angebracht hat und wie groß es auch sein mag – der Mittelpunkt von allem, was sie umgibt.

 

John Bergers poetischer Gestus ist nicht ohne existenzielles Pathos. Pathos bedeutet im Griechischen „Leidenschaft“. Bergers Pathos entspringt dem tagtäglichen Staunen über die Unendlichkeit des Seins. Das Staunen ist die unerschöpfliche Quelle der Spiritualität. Genau an diesem Punkt begegnen sich bei Berger Kunst und Religion. Das erklärt die zahllosen Bezüge auf sakrale Kunstwerke und das systematische Verweben von Elementen christlicher Ikonographie in Bergers Texten. Staunen bewahrt das Geheimnis. Staunen ist unmittelbar. Der Körper staunt, bevor der Verstand Worte dafür findet. Staunen ergreift alle Sinne. Staunen ist Botschaft und Vehikel zugleich. Sie überträgt sich wie die Melodie zu einem Lied, dessen Botschaft auch ohne Worte beim Hörer ankommt. Denn Musik rührt an ein universelles kreatürliches Bewusstsein vor jeder Sprache. Die Botschaft sucht sich im Klangkörper des Sängers ihr „Instrument“, so Berger. In „Einige Anmerkungen über das Lied“ schreibt er:


Ein Lied erzählt von einer vergangenen Erfahrung. Gesungen aber füllt es die Gegenwart. Genauso machen es Geschichten. Aber Lieder besitzen eine weitere Dimension, die einzig ihnen gehört. Während ein Lied die Gegenwart erfüllt, hofft es, das Ohr eines Hörers irgendwo in der Zukunft zu erreichen. (…) Ohne diese beharrliche Hoffnung würden die Lieder, so glaube ich, nicht existieren.


Genau so wenig wie die Geschichten John Bergers. Die, immer auf dem Grat zum Lied und zur Malerei, beständig über ihre eigenen Worte hinausweisen. Und die bis zuletzt aus der Hoffnung geboren werden, eine universelle Botschaft damit in die Zukunft zu tragen. All die Jahre habe ihn eine Ahnung zum Schreiben angetrieben, dass etwas erzählt werden müsse, dass, falls er selbst es nicht versuche, unerzählt bliebe. Schreibt Berger in der Erzählung „Selbstporträt“, mit der „Ein Geschenk für Rosa“ beginnt. John Bergers Stimme wird fehlen. Doch vielleicht gelingt es uns, sie hin und wieder wachzurufen. Wenn wir mit dem Erzähler an jener Säule unter den sich kreuzenden Arkaden in Bologna warten, könnte es sein, dass wir ihn rufen hören. Ganz leise und doch so klar und deutlich, als wäre er noch da.

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