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Ereignisse als Symptom

Thomas Bernhard: "Der Wahrheit auf der Spur. Die öffentlichen Auftritte: Reden, Leserbriefe, Artikel". Suhrkamp Verlag 2010. 344 Seiten.

Sendung vom 08.02.2011 im Deutschlandfunk

http://www.deutschlandfunk.de/ereignisse-als-symptom.700.de.html?dram:article_id=84942
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Gegen das Diktat der öffentlichen Meinung regte sich Thomas Bernhards Widerstandsgeist. Das zeigen die Texte des "öffentlichen Bernhard". Eins haben sie fast alle gemeinsam: Einzelne Ereignisse werden in Bernhards Einlassungen zum Symptom umgedeutet.

Alternativlos ist allein der Tod. Leben bedeutet Widerspruch. Jeder begonnene Tag ein Einspruch gegen das Nichts; jeder Atemzug ein aktiver Widerstand gegen das Sterben. Von Anfang an. "Der Atem. Eine Entscheidung" überschreibt Thomas Bernhard ein Buch seiner Kindheitserinnerungen. Es ist die Entscheidung eines schwer Lungenkranken für das Leben und gegen den ihm bestimmten frühen Tod.

Bernhards Widerstand betrifft nicht nur den sterbenskranken Körper, sondern auch die von Kindheit an tödlich beschädigte Seele. Auch hier Gewalt und Tod von Beginn an. Der jedes eigenständige Denken und Fühlen im Keim abtötende Terror hat für Thomas Bernhard System. Er beginnt mit der Willkür der Denk- und Redeverbote der Eltern, setzt sich fort in den Zwangs- und Strafaktionen der Erzieher und wiederholt sich in den Disziplinierungsversuchen gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Familie, Lehrer und Öffentlichkeit sind die natürlichen Feinde des Einzelnen. Immer dort, wo sich das unhinterfragte Urteil der Allgemeinheit zum Diktat der öffentlichen Meinung verdichtet, regt sich deshalb Thomas Bernhards Widerstandsgeist.

Genau das zeigt der neue Band mit Texten des "öffentlichen Bernhard". "Der Wahrheit auf der Spur. Die öffentlichen Auftritte: Reden, Leserbriefe, Artikel" heißt das Buch. Es bündelt in chronologischer Folge eine Auswahl von über 70 unterschiedlichsten Texten - vom einzeiligen Telegramm bis zum mehrseitigen Interview. Die Anlässe der öffentlichen Äußerungen sind so verschieden wie ihre literarische Fallhöhe: Poetologische Schlüsseltexte wie jene nie öffentlich gehaltene Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises stehen neben Leserbriefen wie der noch kurz vor dem Tod verfasste zur Einstellung der Gmundener Straßenbahn; kurze polemische Invektiven wie die zur "Eindämmung der Professoreninflation" stehen neben ungewohnt emphatischen Vorträgen wie der vor nicht langer Zeit wiederentdeckte zum 100. Geburtstag von Rimbaud aus den 50er-Jahren.

So unterschiedlich Bernhards öffentliche Äußerungen auch sind, eins haben sie fast alle gemeinsam: Einzelne Ereignisse werden in seinen Einlassungen zum Symptom verabsolutiert. Ein typisches Beispiel ist die sogenannte "Notlichtaffäre". Im für die Salzburger Festspiele geschriebenen Stück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" verlangte Bernhards Regieanweisung "totale Finsternis". Doch die Organisatoren weigern sich, für kurze Zeit das Notlicht zu löschen. Bernhard telegrafiert an den Festspielpräsidenten Josef Kaut: Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht ertrage, komme ohne sein Schauspiel aus. Es bleibt bei der Premierenveranstaltung.
In einem anderen Fall macht Thomas Bernhard eine schlichte Essensausladung anlässlich eines Portugalbesuchs buchstäblich zur Staatsaffäre. In der heimischen Zeitung "Die Presse" schreibt er in einem "Offenen Brief an den Herrn Bundeskanzler": Ursache seiner Ausladung sei die unerhörte Beleidigung des österreichischen Botschafters gewesen, er sei "ein destruktiver, schrecklicher Kerl." Die Gastgeberin reagiert mit einem erstaunten Leserbrief, der Botschafter habe keinerlei Einfluss auf die Wahl der Gäste ausgeübt. Die Wahrheit bleibt im Dunkeln. Sicher ist eins: Bernhard macht aus der "Lissabonner Affäre" großes Theater. Sein Brief ist eine mit großem theatralischem Gestus vorgetragene grandiose literarische Improvisation zum Bernhardschen Dauerthema der systematischen Diffamierung von Kunst und Künstler durch den österreichischen Staat. Denn Staat und Öffentlichkeit sind die natürlichen Feinde des Künstlers; der Künstler Stellvertreter im Kampf für den Einzelnen gegen jegliches System.

Thomas Bernhards öffentliche Inszenierungen richten sich gegen den im Gebrüll der öffentlichen Meinung laut werdenden Tod. Er nutzt konkrete Erregungen als Bühne für existenzielle Grundsatzdebatten. Daher lassen sich die meisten seiner "öffentlichen Texte", genau wie Bernhards Prosa, gleichzeitig konkret und abstrakt lesen. Das erklärt die auffällige stilistische Nähe zu den fiktiven Texten.

Gerade diese für Bernhard typische Doppelbödigkeit macht die in "Der Wahrheit auf der Spur" zusammengestellten Texte interessant. Zuvor meist verstreut erschienene öffentliche Publikationen sind hier erstmals ungekürzt und in Buchform zugänglich. Ihre ironische Mehrdeutigkeit erschließt sich allerdings oft erst mit Blick auf den im Anhang nur angedeuteten Kontext der Veröffentlichungen. Mit dem angekündigten Band 22 der Werkausgabe versprechen die Herausgeber ausführlichere Kommentare. Nicht-Bernhard-Experten wünschten sich eher Text begleitende Erläuterungen und Dokumente sowie Fotos der öffentlichen Auftritte. Aber auch so kann man sich beim einfachen Durchblättern von Kostproben Bernhardscher Polemik überraschen und amüsieren lassen. Denn kein Text ist ohne Ironie und Humor.

Schließlich, so Bernhard, sei er eine lustige Person. Da könne man leider nichts ändern, so tragisch alles andere sei.

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