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Nastrowje, Kanada!

David Bezmozgis: Natascha. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 192 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 16, 21.04.2005, Seite 21

 

DEBÜT David Bezmozgis' heitere russisch-jüdische Auswanderergeschichte


Der knapp dreißigjährige David Bezmozgis, vor einem Jahr noch ein Unbekannter in der Literaturszene, avancierte in den USA und Kanada zum hoch gelobten Nachwuchsautor. Die Veröffentlichung einiger Kurzgeschichten in den Zeitschriften „The New Yorker“, „Harper’s“ und „Zoetrope“ machte den in den achtziger Jahren mit seinen Eltern aus Riga nach Toronto emigrierten jüdischen Schriftsteller über Nacht bekannt. Die Erwartungen an sein jetzt auch auf Deutsch erschienenes Debüt „Natascha“ sind entsprechend hoch.

Der Band enthält sieben Geschichten, die in lockerer chronologischer Folge aus der Perspektive des zu Beginn sechsjährigen Mark Berman erzählt werden. Die Erzählungen weisen enge autobiografische Bezüge auf und handeln von der aus Lettland nach Kanada ausgewanderten jüdischen Familie Berman mit Sohn Mark, Mutter Bella und dem als Masseur tätigen Vater Roman. Bezmozgis selbst spricht von „autobiografischer Fiktion“. Der Themenkomplex rund um russisch-jüdische Auswanderer ist – spätestens seit Büchern wie dem „Handbuch für den russischen Debütanten“ von Gary Shteyngart – mehr als bekannt.

Es geht um nackte Existenzsicherung, um soziale, kulturelle und religiöse Heimatlosigkeit und Identitätsfindung in einem unbekannten Land und einer neuen Sprache. Und um einen Jungen, der dabei ist, erwachsen zu werden.

Der Ich-Erzähler Mark berichtet nüchtern und kommentarfrei von eigentlich eher unspektakulären Erlebnissen. Vom tödlichen Unfall des Nachbarhundes Tapka, dem einzigen emotionalen Bezugspunkt der Nahumowskys, für den Mark sich verantwortlich fühlt. Von den mühsamen Versuchen des Vaters, sich mit einer eigenen Massagepraxis eine Existenzgrundlage aufzubauen. Von der jüdischen Schule und dem fragwürdigen Unterfangen des Rabbis, Marks Bewusstsein für seine jüdische Herkunft zu prägen.

Von Sergej Federenko, dem Gewichtheber und Freund des in Russland ehemals als Sportfunktionär tätigen Vaters, der für Mark vom „stärksten Mann der Welt“ zum zweitstärksten degradiert. Vom Sterben der Großmutter und dem Versuch des Großvaters, in der sozialen und religiösen Gemeinschaft eines jüdischen Wohnhauses seine letzten Jahre zu verbringen. Und schließlich von Natascha, Marks attraktiver, lebenserfahrener russischer Cousine, die den orientierungslosen pubertierenden Jugendlichen in die Liebe einführt.

Am besten sind die Geschichten in den kurzen Passagen, die Bezmozgis scheinbar nebensächlichen Details widmet. In Momenten, wo er mit knappen Strichen einen ganzen Kosmos von Erinnerungen, Enttäuschungen, Hoffnungen oder Utopien anzudeuten versteht. Zum Beispiel, wenn Natascha für Mutter Bella beim Kartoffelschälen zur idealen Zuhörerin ihrer Kindheitsgeschichten wird, obwohl das russische Mädchen viel zu jung ist, um ihre Erfahrungen zu teilen.

Oder in dem Moment, wo bei der Minjan-Feier über Generationen hinweg aus verschiedenartigsten Bedürfnissen heraus ein jüdisches religiöses Selbstverständnis entsteht, das Enkel und Großväter verbindet. Und in der Erzählung über den Gewichtheber Serjoscha, wo die sinnentleerte Wiederholung des Rituals, das Bett des kleinen Mark anzuheben, zum Sinnbild des Scheiterns wird.

Aber was zeichnet diese Geschichten aus – jenseits der Thematik, die Bezmozgis eine wohlwollende Rezeption von jüdischer Seite und der Gemeinde russischer Emigranten garantiert? Die englischsprachige Kritik ist fasziniert von der zurückhaltenden Unaufdringlichkeit und nüchternen Prägnanz der Sprache.

Sie ist begeistert von der leisen und dennoch dichten Art zu erzählen. Fasziniert von der Mehrschichtigkeit der nur oberflächlich realistischen Erzählweise und beeindruckt von der Fähigkeit des Autors, die individuellen ethnischen und sozialen Konflikte zu transzendieren und zu universeller Gültigkeit zu erheben. Star-Autor Jeffrey Eugenides scheut sich nicht, die klarsichtige Melancholie der Texte Bezmozgis' mit Tschechow zu vergleichen.

Das ist viel Lob. Vielleicht ein bisschen zu viel für das Debüt eines jungen Autors, der gerade einmal eine Hand voll Geschichten veröffentlicht hat.

Insgesamt fällt es schwer, nach der eher emotionsneutralen Lektüre mit in das kollektive Lob einzufallen. Über die tendenziell unpersönliche kommentarfreie Darstellung Marks, des letztlich nicht kohärenten, unkonturierten Ich-Erzählers, entwickelt der Leser nur begrenzt Interesse und Empathie für Figuren und Themen.

Die zurückgenommene Art des Erzählens, die als künstlerisches Understatement gefeiert wird, läuft ständig Gefahr, in Beliebigkeit abzurutschen. Eine vorsichtigere Würdigung des respektablen Versuchs, einen eigenen, nicht auf Effekt angelegten, sympathisch unaffektierten Stil zu finden, wäre nicht zuletzt auch im Sinne Bezmozgis; eines unzweifelhaft talentierten jungen Autors am Anfang seiner literarischen Karriere.


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