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Am Grubenhimmel leuchten keine Sterne

Wolfgang Bleier: Der Buchmacher. Prosa. Otto Müller 2005. 152 Seiten.

Rezension in Literatur und Kritik 2005.


„Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ –Wolfgang Bleiers Prosadebüt


Das Buch macht den Schriftsteller. Und Schriftsteller sind Buchmacher. Der Autor macht Bücher, indem er Buch führt. Wie der Buchmacher im Wettbüro verwaltet er den Spieleinsatz. Mit jeder Wette spielt der Spieler um sein Leben. Der Buchmacher dokumentiert Gewinn und Verlust. Und zahlt, was übrigbleibt. Wenn es aus ist, das Spiel. Das Ende ist buchstäblich zum Totlachen: “Man könnte darauf wetten, wer als  nächstes stirbt.“

 

„Der Buchmacher“: So heißt Wolfgang Bleiers Prosadebüt und die mit hundert Seiten längste Titelgeschichte des Bandes. Eine Mischung aus expressionistischem Höllengemälde, volkstümlichem Narrenkastel, barockem Totenstück, schwarzhumoriger Tragikomödie, Brechtschem Drama und närrischem Kasperltheater.

 

Das Wiener Wettbüro S ist ein ranziges Kellerloch im Hinterhof. Ein Ort für Kellerasseln und Maulwürfe, für Spieler und geistige Grenzgänger. Die Unterwelt der Spielsüchtigen, Trinker, Schieber und Verrückten. Wie in Dantes Hölle öffnet sich der Blick auf ein Panoptikum skuriller Figuren: der Geselchte, der speckige Mannsbär, der Wollüstige, den Weibspersonen nachwiehernd wie ein geiler Hengst, der grantige Kantinegustav, von Grind und Krätze überzogen, der aus dem Steinhof entlassene narrische Diskofredi und der Einschreiber. Am Grubenhimmel leuchten keine Sterne, und keine Sonne scheint in das lichtlose Loch. Es ist ein Stillstand. Die Zeit vergeht draußen.

 

Von Rennen zu Rennen lebt der Spieler – im kalten Schweiß gebadet, vom nebligen Dunst des Zigarettenqualms geräuchert, das Schnapsglas, sein „Allerheiligen und Grablicht“ – während die Pferde, Schaum vor dem Maul, um ihr Leben laufen. Selbst zum Tier geworden ist der Spieler, „bald holt ihn die Pest, bald liegt er der Länge nach hingestreckt auf ihrem Karren.“ Wie eine Sau im Saufang lebt er: von Saufraß und Sautrank, zwischen schmutzigen Kübeln und vom Danebenbrunzen überschwemmtem Pissoir, im Gestank von Urin und aufgestoßenen Magensäften. „Der Kopf ist ein Kübel.“ Die Gesichter das „reine Totholz“. Mit „einem Stemmeisen“ bearbeitet, zerfließend, ähnlich dem Bacchus Jovis Corinths.

 

Grob behauen, steinbruchartig wie die Bilder, wie die Sprache, mit der Bleier dieses Höllenszenario entwirft. Mit kühnen Wortbildern und der Personalisierung von Unbelebtem und Natur, mit barocker Drastik und starken Metaphern der Vergänglichkeit. Denn: „bis in die Grube ist es kein Spaziergang.“

 

Die Sprache humpelt, stürzt, wird gestaucht, prallt aufeinander. Sätze werden telegrammartig verkürzt und grotesk verzerrt. Satzteile verdreht und ausgespart. „Im Wörtermeer sind Wortbrocken und Zungenbrecher: die Zunge bricht im Laufe des Tages, die Zunge bricht unendlich oft ans Land.“ Sprichwörtlichem wird das Wort im Mund herumgedreht: „man sagt“, „man sagt auch“, „wie man so sagt“, „wie man weiß“. Phrasen werden gedroschen, bis sie aufplatzen.„Wie man sieht“, „wie man noch sehen wird“ hat eine solche Sprache keinen Erzähler. Ihr Pronomen ist „es“ und „man“, und der Duktus ist passiv und perfektiv.

 

Es gibt kein handelndes Subjekt. Der Spieler spielt nicht. Es spielt ihn. „Entlang der Laufbahn läuft der Mensch in einem fort. Diese Roßtäuscher!“ Der Tod ist das Ziel. Das Leben ist ein Totenrennen. Die Jockeys reiten wie Teufel über den „Lacus Mortis“. Der Todesengel zieht ein ins Wettbüro und der Totengräber wird zum ständigen Gast. Der Spieler sieht direkt ins Grauen. Alle Spieler „werden als wilde Horde in kurzer Zeit über den Himmel reiten.“

 

Denn auch der Spieler ist ein Abbild Gottes. Sein Herumstehen und Geklimper vor der Kassa ist sein Opfergang und das Pferd sein Opferstock. Erinnert die Wettgemeinschaft zwischen Stummerl und dem Tattrigen nicht an das Gleichnis vom Lahmen und Blinden? Und gleicht der Spieler nicht, gebadet in kaltem Schweiß, dem dornengekrönten Christus?

 

Eine jämmerlich lächerliche Figur gibt der Spieler im Jammertal der Erde ab auf der Suche nach jenseitigem Heil. Und sein Zerrbild unterhöhlt jede religiöse Heilsversprechung. Es ist zum Heulen und Zähneknirschen. Oder zum Totlachen. Wie die absurde Warnung: „Setzans eana net an den Tisch, den Tisch hot no kaner überlebt, ja, der Herr Böhmisch, gestern Nacht. Was, tot, der Herr Böhmisch? Warum net.“

 

Die Motive sind bekannt. Und gehören nicht erst seit Dostojewkis „Spieler“ und „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ zum Kanon literarischer Topoi. Aber Bleiers mutwillige Sprache hat in dieser schwarzhumorigen Groteske ihr Thema gefunden.

 

„Nasse Wiesen“ heißt die zehn Seiten kurze Erzählung über einen anderen, ur-österreichischen Topos: die Heimatgeschichte. Sie entwickelt das sprachkritische Zerrbild einer Dorfidylle. Naturgemäß im Bewusstsein: „Jede Heimat ist gefährlich.“ Das ganze Repertoire der Gemeinde Dornbirn zwischen Bergen und Ache mit Kirche, Feuerwehr, Musikverein und Herbstmesse wird aufgefahren. Und auf die Spitze getrieben, denn: „Das Heil wird gesucht.“ Wie der Todkranke im Zentrum der Geschichte wird das dörfliche Alpenpanorama auf seine Überlebensfähigkeit abgeklopft. Aber nicht umsonst hatte der Großvater immer einen kleinen Hammer mit zum Zunageln des Sarges. Für das Idyll wie für den Knochenmann „waren die Sargbretter schon gehobelt.“

 

Grob zurechtgehauen wie Bleiers Sprache. Die auch diesmal trifft. In einem harten parataktischen Satzstakkato wird auf das Sprichwörtliche eingehämmert. „Die Zunge hölzelt im wirr mit Unterholz verwachsenen Maul.“ Auch diesmal perfektivisch und passiv und ohne Erzähler in der Wiedergabe indirekter Rede sagt sie, was einmal war, was die Mutter sagt, der Vater sagt, Zagnels Mathilda sagt. Und entreißt der Phrase momentweise höchst originäre, brutal poetische Formulierungen, die die Sprache aus der anonymen Erzählposition mitten ins Mark treffen.

 

Ein Ich-Erzähler bestimmt erst im dritten und letzten dreißig Seiten kurzen Prosastück das Geschehen. Seine Rede behandelt „Die Welt. Ich. Der Verlauf der Zeit. Alles in einem Aufwaschen.“ Eine große Aufgabe. Über der die Sprache zu zerbrechen droht. Aussagesätze werden wie im Schulaufsatz hölzern aneinandergereiht. Aus den Redensarten bricht hie und da ein Satz aus wie „Die Zeit ist ein schrecklicher Vogel.“ Ähnlich wie Peter Handkes Kaspar lernt die Sprache sprechen. Und gerinnt, manchmal in biblischem Duktus, bisweilen zu existenzieller Bedeutsamkeit: „Den Wind säe ich, den Sturm werde ich ernten.“ Oder redet sich wund: „Sehen Sie: Tausend Scherben machen den Kopf, wenn er zerspringt.“ Und entwickelt sogar im elegisch pathetischen Konjunktiv eine Vision: „Mit einem mal würde das Wasser bergauf fließen, (...) das Sterben fiele uns leicht.“ Aber es bleibt Utopie, oben rührt sich kein Gott.

 

Bleier geht hier mit der Sprache an ihre Grenzen. Beinahe redet er sich um Kopf und Kragen. Aber immer nur beinahe. Auch wenn der Sprachterrorismus eine äußerste Zumutung an die Geisteskräfte des Lesers darstellt. Doch Sterbenswörter müssen nun mal mit steinerner Zunge gesprochen werden. Hart wie das Ende, ein „Kurzer Schluss: man stirbt für sich allein. Ein Leben lang ist man auf der Suche, bis man ihn, den Tod, gefunden hat. Wer hätte das gedacht, das ist der ganze Witz.“

 

Ein Witz, den Bleier trotz allem barocken Memento mori nie verliert. Das ist es, was letztlich verhindert, dass die oft doch sehr gewagten Sprachexperimente seiner Prosastücke kippen: Sein Galgenhumor und die Ironie. Nur mit Lachen können wir dem Tod widerstehen, und „wenn quasi alle Stricke reißen würden, dann hänge er sich auf an einem ganz dünnen Strick."

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