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Papa der Nation

Lars Brandt: Andenken. Hanser Verlag, München 2006.  156 Seiten.

Rheinischer Merkur – Nr. 06,  09.02.2006, Seite 22

 

PROMI-FAMILIE „Andenken“ zeigt Willy Brandt in ungewohnter Rolle – als Vater

„Andenken“ ist ein befremdlicher Titel für das persönliche Erinnerungsbuch eines Sohnes an seinen Vater. Einen sehr bekannten Vater. Auf dem Umschlag ist sein Porträt auf einer russischen Lackdose abgebildet: Willy Brandt. Beinahe sieht es so aus, als sei er schon zu Lebzeiten aufgenommen worden „in den zeitentrückten Olymp gerontokratischer Halbgötter“. Eine unsterbliche Ikone im „Mausoleum der Zukünftigen“. Dagegen versucht Sohn Lars in seinem Buch „Andenken“ buchstäblich „anzudenken“. Alle vorgefertigten Bilder ausradieren, sich an den Vater unverstellt „herandenken“, individuelle Ornamente auf das verknitterte Papier zeichnen: Das ist sein Ziel. Dazu gilt es, sich all die Einzelheiten möglichst genau in Erinnerung zu rufen, deren Summe jeden Menschen ausmachen. Um zu jenem Teil der Wirklichkeit vorzustoßen, von dem nur er erzählen kann.

 

In Nebensächlichkeiten sucht Lars Brandt nach Mustern, im disparaten Material der Realität forscht er nach Strukturen. In der Hoffnung, sich dem zu nähern, was ihn mit dem Vater verband. Nicht, was den Mythos nährt, nicht, was ihn verbeult, steht in seinem Blickfeld, sondern randständige Ereignisse mit Symbolcharakter.

 

Beobachtungen von Details wie der fehlenden Armbanduhr des Vaters – schon als Bürgermeister in Berlin trug er weder Uhr noch Geldbörse – belegen: Willy Brandt war von der Lebenswirklichkeit der Menschen, für die er Entscheidungen traf, weit entfernt. Genauso blieben ihm seine Dienstboten, der Chauffeur oder die Haushälterin, fremd. Für den überzeugten Sozialdemokraten, der sich mit wachsender politischer Macht persönlich auf immer bescheidenere Räumlichkeiten beschränkte, kein Widerspruch. Im Gegenteil: Brandt lebte aus seinen Gegensätzen. Im einen Moment gesellig, zog er sich oft zurück.

 

Er war ein Machtmensch und dennoch verletzlich, verstand sich auf mediengerechte Auftritte und war im nächsten Augenblick verschlossen. Widersprüchlich genauso das Verhältnis zu seinem zweitältesten Sohn Lars, der ihn häufig auf Wahlkampfreisen oder Staatsempfänge begleitete. Mit der unpersönlichen Paraphe „V.“ unterzeichnete er seine Briefe an ihn, mit dem er sich immer wieder zum Angeln davonstahl. Einer gemeinsamen Leidenschaft, die beide in wortlosem Einverständnis miteinander verband. Schweigend saßen sie Rücken an Rücken im Boot; wie auf dem skandinavischen See im Urlaub, wo sie tagelang die Leinen auswarfen. Auch beim Frühstück überließen die passionierten Angler das Sprechen weitgehend dem Papagei. Einem vom Vater geliebten Vogel, der stetig daran arbeitete, die rauchige Stimme seines Herrn zu reproduzieren. Irgendwann wurde er fortgegeben und landete im norwegischen Hinterland. Wo vielleicht noch heute, so die Vorstellung des Autors, die Stimme seines Vaters über einem einsamen Fjord zu hören sei. Heute, mehr als zehn Jahre nach Brandts Tod im Rheinörtchen Unkel, in dem der Sohn sich nach jahrelangem Zerwürfnis vom schwer kranken Vater verabschiedet. Heute, wo der Autor aufschreckt, wenn er beim Aussteigen aus der U-Bahn auf den „Willy-Brandt-Platz“ trifft oder er im Auto plötzlich die fremd-vertraute väterliche Stimme aus dem Radio hört.

 

Lars Brandts Buch „Andenken“ ist ein absolut unsentimentales Erinnerungsstück an den bekannten Vater. Die biografische Bestandsaufnahme überzeugt auch literarisch. In kleinen Prosaminiaturen hält Lars Brandt alltäglichste Wirklichkeitspartikel fest. Auf faszinierende Weise spröde schreibt er dabei gegen jegliche Leseerwartung an. Und spielt gekonnt mit der Unberechenbarkeit. Gedanklich und sprachlich. So entstehen Ornamente, „aus freier Hand gezeichnet“. Außergewöhnlich präzise Beschreibungen von hoher Sprachdynamik mit immer wieder überraschenden Wendungen. Eigenwillige Drehungen, die Willy Brandt aus dem einerseits sehr persönlichen, aber gleichzeitig nüchtern-exakten Blickwinkel des Sohnes in einem ungewohnten Licht erscheinen lassen. o

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