Halt dich an Liebe, die vergeht
Volker Braun: Auf die schönen Possen. Suhrkamp 2005. 101 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 33, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 18. August 2005, S. 24.
Zweitveröffentlichung vom 05.09.2005 im titel-magazin
titelmagazin.com/artikel/6/2454/volker-braun-auf-die-sch%C3%B6nen-possen.html
Sendung in der Deutschen Welle
LYRIK Volker Braun ist überzeugt: Der dritte Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus führt durch die Dichtung. Weisheit des Narren.
Manchmal ist Lyrik aktueller als ihr Ruf. Die Gedichte von Volker Braun zum Beispiel. Zum Lachen ist sie und zum Weinen, seine tragikomische Poesie. Wie die Wirklichkeit eben. Dieser versucht der aus Dresden stammende Braun in seinen Versen „Auf die schönen Possen“ nahezukommen. Wie nahe, zeigt seine doppelseitige Kritik an der kapitalistischen und der sozialistischen Ideologie. Denn, so der Autor in seiner Büchnerpreisrede: „Eine Revolution, die kein Brot gibt, und eine Demokratie, die die Arbeit nimmt, sind keine ernsthaften Avancen.“ Vorweggenommen hat er damit die Re-Ideologisierung gesellschaftlicher Debatten, die Experten für den vorgezogenen Bundestags-Wahlkampf versprechen. Volker Braun diagnostiziert in seinen Gedichten aber nicht den Zwiespalt von Ideal und Wirklichkeit. Sondern er zeigt nach Büchners Vorbild die Risse, die durch die Wirklichkeit selbst gehen. Und sucht nach einer doppelten Lösung: der Mensch und die Gesellschaft. Denn, so Braun in seiner Rede, „was sind (...) allgemeine Begriffe gegen die akute Erfahrung (...), gegen die Kraft der Sinne, die Lust, das Entsetzen.“
Das lyrische Ich seiner Gedichte ist in zwei Republiken verwurzelt und doch in keiner beheimatet. Ursache einer identitätskritischen, aber auch wahrnehmungs- und erkenntnissteigernden Doppelsichtigkeit. Im dauernden Blickwechsel zwischen zwei Welten wird das Ich zur „Wettererscheinung zwischen den Schläfen“. Eine zerrissene Identität, die vergeblich ihr Gleichgewicht sucht. Auch wenn beide Augen eine schöne Welt lügen, bleibt Gleichgewicht, so der Titel der ersten Gedichtfolge, trügerischer Schein. Das Ich muss sich den Gegensätzen stellen. Dieser Forderung kommt es im Gedichtzyklus „Totentänze / Liebeslager“ nach. Dichtend versucht es, sich im Spannungsfeld von Eros und Tanatos neu zu verorten. Erst führt der Tod die Feder. In barocker memento-mori-Manier wird die materialistische Ideologie, das Volkseigentum, der Klassenkampf und die Solidarität in feierlichen Madrigalen zu Grabe getragen. Dann diktiert Eros dem lyrischen Subjekt morbid-sinnliche Liebesverse. Es schlägt seine Liebeslager in pontinischen Sümpfen auf und lässt sich von seiner Begierde nach „ewigem Beischlag“ zu grotesken Liebesspielen zwischen Gräbern treiben. Durchaus ironisch gemeint ist der Abgesang auf die Liebe und die sozialistischen Ideale. Alle Titel werden demonstrativ in eckige Klammern gesetzt. Im „Shakespeare-Shuttle“ in der Buchmitte befindet sich das lyrische Subjekt schließlich „glücklich beschäftigt die Zeit zu überholen (...) im freien Fall durch die Evolution“. Am Ende sind nämlich sowohl das Sein als auch das Bewusstsein im Eimer. Woran soll sich das lyrische Ich nun nach dem kollektiven Zerfall der Utopien und dem ungenügenden Trost durch die Liebe halten? Die Lösung, das Lachen. Die Antwort, eine Narretei. „Mach dir den Kopf nicht, wenn dein Hintern fällt“, so der Appell. Diesem Gebot der Zeit gehorchend, pflegt Braun das Narrentum in lustvoll gereimten Verse „Auf die schönen Possen“. Sein absurd-humorvoller Aufruf: „An Liebe halt dich, die vergeht. / Nach Höhrem nicht verrenk den Geist. / Bereichre dich an der Vergänglichkeit / Nur was verwelkt gewährte Lust.“ Mit Galgenhumor und Todesmut lacht Braun in seinen Versen gegen das „Freudenelend“ des Lebens an. Die Geschichte selbst reißt die Witze, der Dichter gibt nur den Senf dazu. Angesichts dessen wird der „Zeitgeist“ zur Nebensache, zum „Anhang“, dem letzten Gedichtzyklus des Bandes. Eine Randnotiz, epigrammatisch auf einen „flüchtigen Zettel“ geschrieben.
Volker Brauns Gedichte sind politisch, weil sie privat sind. In diesem Sinne sind sie radikal. Denn, so der Autor, mit Büchner: „Ist radikal sein nicht die Sache an der Wurzel fassen, die der Mensch ist?“ Mit philosophisch lakonischer Poesie versucht Volker Braun an diese menschliche Wurzel zu rühren. Und dichtet Verse, die bewegen. Vielleicht, weil sie trotz ihrer formalen Perfektion nicht an Authentizität und Bodenhaftung verloren haben. Denn egal ob im Endecasillabo oder barocken Alexandriner intoniert, ob im Reim oder freien Rhythmen, Goethe zitierend, verfasst: Volker Brauns Gedichte sprechen Themen an, die die Menschen angehen. Dabei ist die Lyrik weder einseitig agitatorisch noch zeitgeistverhaftet flüchtig. Weil es Braun gelingt, Aktuelles an Aussagen von zeitloser Allgemeingültigkeit anzubinden. Und weil er gegen „das große Umsonst“ immer noch eine letzte Utopie bewahrt: seine letzte Verblendung, die, so Braun, herrlichste Einbildung einer gelingenden Symbiose von Volkseigentum und Demokratie. Und schließlich, aber nicht zuletzt, weil er trotzdem noch an die Handlung der Kunst glaubt, an „das sinnliche Argument, das uns rigoros in die Wirklichkeit führt (...). Sie mag scheitern, indem es gelingt“.