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Rolf-Dieter-Brinkmann „Ein Vorfall“ erschienen in „Raupenbahn“

Lesezeit - 20.04.2005
Rolf-Dieter-Brinkmann-Lesung „Ein Vorfall“ erschienen in „Raupenbahn“ –
Erstsendung am 22. Mai 1966 – Länge: 21:34
Erschienen in „Raupenbahn“. Erzählungen. Kiepenheuer und Witsch. Köln und Berlin.
1966.

Anmod „Ein Vorfall“
Wir begrüßen Sie zum dritten Teil der vierteiligen Sendereihe, in der wir an jeweils
vier Mittwochen im April Original-Lesungen anlässlich des Geburts- und Todestages
einer der Ausnahmeerscheinungen der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts
ausstrahlen. Vor 65 Jahren wurde er geboren; vor 30 Jahren, am 23. April 1975, in
London von einem Auto überfahren: Rolf Dieter Brinkmann.

„Ein Vorfall“ – Einordnung „Kölner Realismus“
„Möglichst realitätsnah schreiben“, forderte damals, Mitte der sechziger Jahre, der
Lektor Dieter Wellershoff die im Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheinenden
jungen Schriftsteller auf. Dazu gehörte neben Nicolas Born, Günter Seuren und
Günter Herburger auch der 1940 geborene Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann. Erst
wenige Jahre in Köln, mit erst einem Erzählband („Die Umarmung“) im Gepäck
nahm er die Devise seines Lektors sehr ernst. Geradezu radikal beschränkte sich
Brinkmann in der Erzählung „Ein Vorfall“ auf das Sichtbare seiner Umgebung. In der
Addition von Bildern, ohne jeden Anflug von Psychologie, nach Art eines Filmschnitts,
erzählt er von einem, der sich, seiner Umwelt überdrüssig, in einer Wohnung
verbarrikadiert. Brinkmanns Erzählweise erinnert stark an die in den sechziger
Jahren auch in Deutschland in Mode gekommene Ästhetik des ‚nouveau roman’.

„Ein Vorfall“ – Einordnung in Erzählband „Raupenbahn“
„Der Vorfall“ ist eine von fünf Erzählungen in dem Band „Raupenbahn“. Diese und
zwei weitere thematisieren Tod und Sterben. Immer ist es ein gewaltsamer Tod. In
„Raupenbahn“ handelt es sich um eine Tötung, in „Ein Vorfall“ um Selbstmord und
in „Spät“ um Todesphantasien. Dem Thema Tod korrespondiert der untergründige
zweite Gegenstand der Erzählungen: die Sexualität .

Erzählband „Raupenbahn“ – Rezeption zwiespältig
Die Kritik bleibt, wie bei dem ein Jahr zuvor erschienenen ersten Erzählband „Die
Umarmung“, dem Erzählband „Raupenbahn“ gegenüber zwiespältig. Der Faszination
von dem jungen Talent steht die Irritation über die provokanten Inhalte und die
Radikalität der literarischen Mittel gegenüber. Paradigmatisch ist das Urteil K.H.
Kramberg in der Süddeutschen Zeitung über Brinkmann als einen „Autor (...), der
sehr viel zu sagen, aber so gut wie nichts zu erzählen hat.“ Befremden und
Unverständnis bleiben vorherrschend. Wie hier bei Günter Blöcker in der FAZ:
„Objektverhaftete Bestandsaufnahmen und die von Objekten provozierten Bewegungen
der Phantasie führen hier die hohe Schule der Bezüglichkeit des Unbezüglichen
vor. Der rote Faden – wenn es einen gibt – verliert sich in dem Zeremoniell
einer in sich selbst vernarrten Beschreibmaschine.“ Oder bei Herbert Nedomansky
in Die Presse, Wien: Brinkmanns „ absatzlose, in monotoner, lamentohafter Form
sich dahinschleppenden „Texte“ können bestenfalls als Etüden angesprochen
werden (... ) Was soll diese perpetuum-mobile-artige Beschreiben toter und lebender
Dinge, was soll dieses wie mit fahlem Scheinwerferfingern Abtasten von
Gegenständen und Gestalten, was soll dieses nicht einmal von motorischer Unruhe
getriebene Flanieren durch obskure Gefilde, was soll dieses Wühlen im Schmutz,
das hinter der Maske des Sterilen geschieht (...)?‘

„Raupenbahn“ – Bruch Erzählmuster durch Adaption filmischer Methoden
Die Irritation und Provokation ist Programm. Brinkmann löst systematisch traditionelle
Erzählmuster und ordnungsstiftende Prinzipien wie Zeit, Raum und handelnde
Personen auf. Kausale und zeitliche Orientierungspunkte werden gekappt, verwischt
und in neu zusammengestellt: In einer nur in der Erzählung präsenten
Zeitspur kreuzen sich Erinnerungen, Träume, Visionen, Halluzinationen, Obsessionen.
Der Text wird zum Vexierbild. Methode und Effekt werden von Günter Blöcker
in der FAZ so beschrieben: „Der Blick (...) saugt sich an den Gegenständen fest, bis
sie, allzu beharrlich fixiert, gewissermaßen zu flimmern anfangen und im Beschauer
neue Gegenstände erzeugen.“ Brinkmann adaptiert filmische Darstellungstechniken
wie Zoom, Überblendung, Schwenk und Schnitt. Statt der späteren harten Cuts
herrscht hier noch der weiche fließende, kaum wahrnehmbare Übergang vor. Ein
den verschiedenen Überblendungstechniken im Film nachgebildeter Effekt, den
Heinrich Vormweg im Deutschlandfunk hier als besonders gelungen hervorhebt:
„Charakteristisch (...) für alle Prosastücke des Bandes ist die außerordentliche
Sorgfalt, mit der Brinkmann die Übergänge ausarbeitet, hier von Wahrnehmung zu
Vorstellung und zurück, aber auch von Wahrnehmungskomplex zu Wahrnehmungskomplex.“


„Ein Vorfall“ – Ersatz des Erzählers durch „objektives“ Kameraauge
In der Erzählung „Ein Vorfall“ wird ein Zeitungsbericht über einen Feuerwehreinsatz
Ausgangspunkt einer surrealen Fantasie: Aus einem Zeitungsfoto werden die
Ereignisse rund um einen Selbstmord rekonstruiert. Aber die Darstellung ist seltsam
verzerrt: Die Zeitabläufe sind verwirrt, die Chronologie der Ereignisse verunklärt und
die menschliche Bezugsfigur fehlt. Die Erzählung hat weder einen Erzähler, noch
einen Protagonisten. Ein Kennzeichen, das Heinrich Vormweg im Deutschlandfunk
so beschreibt: „An die Stelle der Er-Figur tritt ein Hohlraum, eine Leere, um welche die Objekte gleichsam in ihrem eigenen Rhythmus kreisen, ohne noch etwas für
jemanden zu bedeuten.“ Wie im Film verschwindet der Erzähler hinter dem Apparat,
der Kameralinse, dem omnipotenten, künstlichen Wahrnehmungsorgan.
Die Geschichte wird gleichsam aus dem Off erzählt. Günter Blöcker in der FAZ
dazu: In „Ein Vorfall“ wird das Ereignis nicht eigentlich beschrieben, der Vorfall
„befindet sich auf der Suche nach sich selbst. Eine Straße, Häuserfronten, ein
erleuchtetes Fenster, dahinter ein Wohnzimmer, worin auf einem Sessel eine
aufgeschlagene Zeitung liegt, in der Zeitung ein Foto, das eine Gruppe von Leuten
zeigt, die zu eben diesem Fenster hinaufblicken. Dort also ist er geschehen, der
Vorfall, dessen Akteure, dessen Ursachen, dessen Verlauf wir nicht kennen. Wir
wissen nur das eine: in einer Art Kreisbewegung kehrt das Geschehen zu seinem
Ausgangspunkt zurück und sieht sich gleichsam selber an.“

„Ein Vorfall“ – literarische Adaption filmischer Methoden
Das literarische Kameraauge revolutioniert die sinnlichen Darstellungsformen. In
einer Kamerafahrt, die an Wim Wenders „Himmel über Berlin“ erinnert, nähert sich
der Blick von der Peripherie dem Geschehen. Er hebt sich vom Straßenbelag auf
die Häuserfront, dringt durch das Fenster in ein menschenlosese Wohnzimmer,
schwenkt durch den Raum, zoomt auf Details der Einrichtung, überblendet auf das
nebenliegende Wohnzimmer des Nachbarhauses, um das Zeitungsfoto zu fokussieren.
Die tote Fotografie wird lebendig. Der Leser steigt mit der Kamera über das
Foto in die Geschichte - wie der Zuschauer in Woody Allens „Purple Rose of Kairo“
über die Kinoleinwand in den Film. Ein kunstvolles Spiel mit der Zwei- und Dreidimensionalität,
mit Wirklichkeit und Abbildung von Realität, mit Schein und Fiktion.
Und Brinkmann bedient sich eines weiteren filmischen Effekts: Das zentrale
Ereignis selbst bleibt ausgespart. Der Tod: Ein Filmriss. Statt dessen blickt die Kamera beiseite: auf den Feuerwehreinsatz, die schaulustige Menschenansammlung
vor dem Ort des Geschehens und den Streit eines Angetrunkenen mit dem
Wirt der benachbarten Kneipe. Am Ende schwenkt die Kamera wieder aus dem
Haus, zoomt auf die Totale, fährt über die Häuserfront, lenkt den Blick auf die
Straße zurück, die sich zum Horizont hin absenkt, wo der Blick sich verliert. Die
Geschichte endet mit fast den gleichen Worten, mit denen sie begonnen hat.


„Ein Vorfall“ – zwischen objektivem Subjektivismus und subjektivem Objektivismus
Zum Schluss der Geschichte reibt der Leser sich ungläubig die Augen. Irritiert von
Brinkmanns höchst verwirrendem Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, Subjekt und
Objekt, Zeit und Raum. Ein Effekt mit Methode. Heinrich Vormweg im Deutschlandfunk
dazu: „Brinkmann stößt in zwei Richtungen vor: einmal in ein Vorstellen,
(...) das einen (...) extremen Subjektivismus voraussetzt (...); zum zweiten addiert er
Wahrnehmungskomplexe zu einer Abfolge, die nicht mehr auf ein Subjekt bezogen
ist (...) Das Prosastück „Ein Vorfall“ scheint – und zwar bravourös – der Imagination
des Subjekts das größere Gewicht zuzusprechen: der Imagination als Energie,
welche die objektalen Befunde zu einer Art Mobile umfunktioniert.“

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