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„Das Lesestück“ aus „Die Umarmung“

Lesezeit - 06.04.2005
Rolf-Dieter-Brinkmann-Lesung „Das Lesestück“ aus „Die Umarmung“– Erstsendung
am 25. April 1965 – Länge: 18:20
Erschienen in „Die Umarmung“. Erzählungen. Kiepenheuer und Witsch. Köln und
Berlin. 1965.


Ankündigung Brinkmann-Lesereihe und erste Lesung „Das Lesestück“
Wir begrüßen Sie zur vierteiligen Sendereihe, in der wir in diesem Monat, jeweils
mittwochs, Original-Lesungen anlässlich des Geburts- und Todestages eines Autors
der Pop- und Beatgeneration ausstrahlen.


Bio- & Bibliografisches
Vor 65 Jahren wurde er geboren; vor 30 Jahren, am 23. April 1975, in London von
einem Auto überfahren: Rolf Dieter Brinkmann. Geboren in Vechta am 16. April
1940, entwickelte er sich nach einer abgebrochenen Lehre zum Finanzbeamten in
Oldenburg und einer Buchhändlerlehre in Essen in den sechziger Jahren zu einem
der innovativsten und, gemessen an seinen literarischen Motiven und seiner
literarischen Ästhetik, radikalsten deutschen Schriftsteller seiner Zeit. Zunächst nur
von Anhängern einer aufbrechenden „Pop-Kultur“ verehrt, wird er heute von der
Kritik wie von der Germanistik, vom Buchhandel wie von seinen Lesern zu den
Ausnahmeerscheinungen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts gezählt.
1962 erschien eine erste Erzählung in der von Dieter Wellershoff, damals Lektor im
Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, herausgegebenen Anthologie „Ein Tag in der
Stadt“. Die Stadt, die er liebte und haßte, war Köln. Hellwach, geradezu wahrnehmungsgierig zog er durch die Straßen der Stadt. Als trüge er ständig eine Kamera mit sich, notierte er alles, was ihm auffiel. Brinkmanns stark rhythmisierte, filmische Prosa der sechziger Jahren ist geprägt von
flirrenden Bildern, harten Schnitten und wüsten innereren Monologen. Als im
Frühjahr 1965 der Erzählungsband „Die Umarmung“ erschien, stand der ansonsten
gegenüber Pop-Litereratur eher resistente Kritiker Marcel Reich-Ranicki in der „Zeit“
zur „verblüffenden Suggestivkraft“, die Brinkmanns Texte auch auf ihn ausübten.
Nach der Lektüre von Brinkmanns erstem und einzigem Roman „Keiner weiß mehr“
(1965) versuchte sich Karl-Heinz Bohrer in der FAZ in einer langen Rezension die
„monomanische Intensität“ dieses Textes zu erklären. Der früh Vater gewordene, von Zeitgenossen als überaus nervös geschilderte Schriftsteller litt ständig unter Geldnot und Existenzangst. Nicht zuletzt deshalb suchte er immer wieder das in unmittelbarer Nähe zum Verlag Kiepenheuer & Witsch liegende Funkhaus des Deutschlandfunk auf, um dort mit neuen, noch
unveröffentlichten Texten in der Literatur-Redaktion vorstellig zu werden. So kam es
zu den vier Lesungen, die anläßlich des Geburts- und Todestages Rolf Dieter
Brinkmanns in diesem Monat an jedem Mittwoch, jeweils um 20.30 Uhr, wiederholt
werden.


Ankündigung Sendereihe Lesezeit Rolf-Dieter Brinkmann
Heute ist die Erzählung „Das Lesestück“ aus dem Erzählband „Die Umarmung“ zu
hören (Erstsendung 25.4.1965), am 13. April die vom Deutschlandfunk in Auftrag
gegebene, aus einem einzigen, 16 Minuten und 55 Sekunden langen Satz bestehende
Ortsbesichtigung des Piccadilly Circus in London (Erstsendung 4.3.1966),
am 20 April die Erzählung „Ein Vorfall“ aus dem Erzählungsband „Raupenbahn“
(Erstsendung: 22.5.66) und am 27. April ein Ausschnitt aus dem Roman „Keiner
weiß mehr“ (Erstsendung 27.4.67).

Wie kein anderes Buch jener Zeit handelt er vom Lebensgefühl einer hysterischen jungen Generation zwischen Rausch und Langeweile, Kino, Pop und Kommerz. Mit einer vorher nie dagewesenen Vehemenz wird die grelle Wirkung von Beat, Film, Mode und anderen Verführungen des Großstadtlebens auf die Psyche und das Verhalten des Einzelnen beschrieben. Einordnung „Das Lesestück“ im Werkzusammenhang „Das Lesestück“ gehört zur frühen, in den Jahren 1962 bis 1964 entstandenen Kurzprosa Brinkmanns. Rolf Dieter Brinkmann hatte 1959 begonnen, in Zeitschriften und Zeitschriften Gedichte zu veröffentlichen. 1962 erschien seine erste Erzählung. Der erste Erzählband kam 1965 heraus. Die Sammlung trug den Titel „Die Umarmung“. Die kurzen Prosastücke, darunter die Erzählung „Das Lesestück“, wurden schnell bekannt. Das hatte zum einen inhaltliche Gründe: Die Erzählungen schockierten die Leser durch freizügige Darstellung des Sexuellen und die Darstellung menschlicher Grundsituationen wie Geburt und Tod. Mindestens so ungewöhnlich w ie der Inhalt war die Form, die detailversessene Genauigkeit, mit der Brinkmann die Wirklichkeit beschrieb: Äußere, optische Eindrücke wechseln dabei ständig ab und vermischen sich mit inneren Vorgängen. Das geschieht mit einer Radikalität, die die literarische Kritik dazu veranlasste, Brinkmann in die Nachfolge des „nouveau roman“ einzureihen.

Einordnung „Das Lesestück“ in Erzählband „Die Umarmung“
„Das Lesestück“ steht im Zusammenhang von sechs, im Band „Die Umarmung“
veröffentlichten Erzählungen. Schwerpunktmäßig kreisen die Geschichten um die
Themen Zeugung, Geburt und Tod. Dem entspricht die kreisförmige Konstruktion
des Bandes. Die Titelgeschichte handelt von der Zeugung, „Der Arm“ beschreibt
den langsamen Krebstod der Mutter, und „Der Riß“ schildert eine Geburt. Die
Erzählungen entwickeln sich nicht, so der damalige Klappentext, „in einer Handlung,
sondern sind Zustandsbilder, in denen sich die Sprache mit äußerster Intensität
bewegt. Mal entsteht Sprachdynamik aus der Erregung einer Person aus
Angst, Hilflosigkeit, Ekel, aus irgendeiner komplexen inneren Verfassung, die einen
Vorstellungs- und Erinnerungszwang erzeugt, der einen kurzen äußeren Moment
mit Bildern, Stimmungen und Phantasmen füllt, ihn aufbläht und monströs werden
lässt, bis er wieder in sich zusammensinkt. Oder es ist umgekehrt, die Person ist
leer oder völlig neutral und existiert nur durch eine immer wieder zwanghaft gesteigerte
Wahrnehmung zufalliger Vorgänge in ihrer Umwelt.“ Trotz des dargestellten
Lebens-Kreislaufs wird in „Die Umarmung“ kein lineares Raum-Zeit-Kontinuum
konstruiert. Im Gegenteil: Die sukzessiven Zeitbezüge werden zugunsten einer gleichzeitigen
Präsenz des zeitlich Getrennten aufgehoben. Stellvertretend dafür läuft in der
Titelgeschichte die Uhr „vorwärts rückwärts“, so daß die Zeit „rückwärts auf der
Stelle vorwärts“ steht. Aus der Ordnungsfunktion der Zeit herausgehoben, durchdringen
sich die Motive in künstlerischer Wiederholung und Variation. Die Erzählungen
werden so zum Diagramm des Unbewussten.

„Das Lesestück“ – Inhalt
Wie die Erzählung „Das Lesestück“, die diese formalen Mittel einsetzt und gleichzeitig
thematisiert. Die Geschichte schildert die letzte Stunde eines Schultags. Ein
Schüler liest unbeholfen etwas vor. Es herrscht die träge, zähe Atmosphäre einer
monotonen Schulstunde, in der alle auf ihre jeweils eigene abgeschlossene Realität
konzentriert sind. Die in mehrere getrennte Realitätsebenen zerfallende Darstellung
der Vorgänge im Klassenraum erfolgt aus der Perspektive des seine Schüler
beobachteten Lehrers. Dessen detailgenaue Eindrücke sind untergründig von einer
latenten sexuellen Spannung durchzogen. Sein Blick schweift vom Covergirl einer
Illustrierten unter dem Schultisch auf das nackte Bein eines Jungen und „noch ein
wenig weiter in die Hose hinein“ auf einen frischen Blutstropfen, der das Bein eines
Jungen zäh herabrinnt. Die Einstellung schwenkt aus dem Fenster hinaus auf die
trostlose Umgebung, die umliegenden Häuser, den Park, die Katze auf dem Dach
und den Schulhof, wo sie die „leichten Schwellungen der Brust“ eines jungen
Mädchens fokussiert. „Das Lesestück“ versinkt in Vorstellungen, Erinnerungen,
Assoziationen. Gegenwärtige und vergangene Bilder überlagern sich. Der Klassenraum
wird zum fiktiven Raum der Wiederholung. Wie die Stimme Jungen beim
Lesen stockt und abzureißen droht, stottert auch der Erzählverlauf, wiederholt sich,
schweift ab und fängt von vorne an.

„Das Lesestück“ – Form
Das Lesen des Lesestücks wird zur Metapher für das Schreiben. Die Leseschwierigkeiten
des Jungen spiegeln den Schreib-Vorgang und thematisieren gleichzeitig
Brinkmanns frühe Erzähltechnik. Im asynchronen, gebrochenen Lesefluss des
Schülers bildet der Autor sein eigenes literarisches Verfahren ab: Ein additiver
Reihungsstil, der durch die Verknüpfung assoziativer Eindrücke in Bewegung
gehalten wird. „Wort für Wort, Satz für Satz, ein Satz nach dem anderen, alle Sätze
aneinandergereiht, flach, eine Schnur, ein Faden“. In scheinbar endlosen Sätzen
dominieren Substantive als Assoziationswörter den Gedankenfluss, locker miteinander
verknüpft durch immer neue Relativsätze.

„Das Lesestück“ – Rezeption zwiespältig
In „‘Das Lesestück‘ vermählen sich die Monotonie des Stils und die Monotonie des
Sujets zu einer den Leser überzeugenden Einheit. Allerdings (...) läuft ihm die
Syntax davon.“, so das damalige Urteil des Kritikers K.H. Kramberg in der Süddeutschen
Zeitung. Diese Reaktion ist exemplarisch für die gesamte, durchgängig
zwiegespaltene Kritik. Sie bewegt sich zwischen Bewunderung und Ekel. Abgestoßen
vor allem von der drastischen Darstellung der Körperlichkeit und Sexualität.
„Mir riecht es in den Texten Brinkmanns noch zu sehr nach Schweiß, Pubertätsneugier
und Alltagsmief“, äußert sich H.C. Andresen im dpa-Buchbrief. Und für
Günter Blöcker von der FAZ ist Brinkmann, ein „Ausgelöschter dem nur das eine
geblieben ist: ein hochempfindliches, ekelbereites Sensorium (...) mit (...) der vom
Widerwillen geschärften Fähigkeit, den Ansturm der Details durch Benennung zu
neutralisieren.“

Doch trotz aller Kritik, sind sich letztlich alle einig: Brinkmann ist ein höchst talentierter
junger Autor. Franz Schonauer im RIAS: „Mir ist zur Zeit kein junger (...)
Autor bekannt, der (...) so hemmungslos und zugleich eindrucksvoll formuliert wie
er.“ Auch Reich-Ranicki erkennt in Brinkmann sofort eine literarische Ausnahmeerscheinung.
In der Zeit beurteilt er „Die Umarmung“ als „Übungsstücke eines
Talents“ mit „verblüffender Suggestivkraft“. Und stellt schon anlässlich dieser ersten
Erzählungen fest: „Es ist vor allem seine auffällige Reizbarkeit, die an Brinkmann
glauben lässt, seine Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke jeder Art, seine
geradezu erstaunliche Sensibilität. Er kann sehen und hören und riechen und tasten
und schmecken. (...) Nicht sein handwerkliches Geschick (...) unterscheidet ihn (...),
sondern (...) seine Fähigkeit, schlicht gesagt, das Leben zu erleben.“

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