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Rolf-Dieter-Brinkmann „London Picadilly Circus“

Lesezeit - 13.04.2005
Rolf-Dieter-Brinkmann-Lesung „London Picadilly Circus“ – Erstsendung am 04.
März 1966 – Länge: 16:55
Erschienen in „Die Welt. 01.04.1967“ und „Manfred Franke (Hrsg.): Straßen und
Plätze. Gütersloh 1967. S. 29-37“.

 

„London Picadilly Circus“

Wir begrüßen Sie zum zweiten Teil der vierteiligen Sendereihe, in der wir an jeweils vier Mittwochen im April Original-Lesungen anlässlich des Geburts- und Todestages einer der Ausnahmeerscheinungen der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts ausstrahlen.


Biografisches
Vor 65 Jahren wurde er geboren; vor 30 Jahren, am 23. April 1975, starb er, gerade
35 Jahre alt, in London. Nach seinem Auftritt auf einem internationalen Lyrikertreffen
in Cambridge kommt er bei einem Autounfall in der britischen Metropole ums
Leben, weil er als Fußgänger den Linksverkehr nicht beachtet. Rolf Dieter Brinkmann.
Geboren in Vechta am 16. April 1940, entwickelte er sich nach einer abgebrochenen
Lehre zum Finanzbeamten in Oldenburg und einer Buchhändlerlehre in
Essen in den sechziger Jahren zu einem der innovativsten und, gemessen an
seinen literarischen Motiven und seiner literarischen Ästhetik, radikalsten deutschen
Schriftsteller seiner Zeit.


„London Picadilly Circus“ – Entstehung
Heute stellen wir einen frühen, exklusiv für den Deutschlandfunk entwickelten
Prosatext „London Picadilly Circus“ aus dem Jahr 1966 vor. Der von den Zeitgenossen
als überaus nervös geschilderte Schriftsteller, lebte seit 1962 in Köln, wo er
an der Pädagogischen Hochschule studierte. 1964 heiratete er Maleen und wird
Vater. Brinkmann litt ständig unter Geldnot und Existenzangst. Nicht zuletzt deshalb
suchte er wiederholt das in unmittelbarer Nähe zu seinem Verlag Kiepenheuer &
Witsch liegende Funkhaus des Deutschlandfunk auf, um dort mit noch unveröffentlichten
Texten in der Literatur-Redaktion vorstellig zu werden. Im Rahmen einer
1966 ausgestrahlten Sendereihe „Straßen und Plätze“ gab die Literatur-Redaktion
des Deutschlandfunk Rolf Dieter Brinkmann den Auftrag, nach London zu fahren
und den dortigen Picadilly Circus zu beschreiben. Als westeuropäischer Times
Square wurde der Platz zum symbolischen Ort großstädtischen Lebens. Es entstand
ein eindrucksvolles, im Rhythmus des Beat verfaßtes Prosastück, bestehend
aus einem einzigen Satz, 16 Minuten und 55 Sekunden lang, einzigartig vorgetragen
vom Autor selbst. London Picadilly Circus wird erstmal am 04. März 1966 im
Deutschlandfunk ausgestrahlt und wurde später nur als Einzelpublikation veröffentlicht:
am 01.04.1967 in „Die Welt“ und im gleichen Jahr in Manfred Frankes Sammelband
„Straßen und Plätze“.


„London Picadilly Circus“ – im Rahmen des „Kölner Realismus“ entstandene
Erzählung der Kurzprosa zwischen 1965 – 1967
Rolf Dieter Brinkmann betrat Anfang der sechziger Jahre als Schriftsteller in
Köln die literarische Bühne. Nach Einzelveröffentlichungen war 1965 in dem
Kölner Verlag sein erster Erzählband „Die Umarmung“ erschienen. 1966 folgten
weitere Erzählungen unter dem Titel „Raupenbahn“. London Picadilly Circus ist
dieser frühen zwischen 1965 und 1967 entstandenen Kurzprosa zuzuordnen.
Zusammen mit Nicolas Born, Günter Seuren und Günter Herburger stand
Brinkmann für eine neue Tendenz innerhalb der Literatur. Dieter Wellershoff,
damals Lektor beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, wollte diese jungen Autoren
einem größeren Publikum zugänglich machen. Gemeinsam war ihnen eine in
der deutschen Literatur der Gegenwart bis dato noch unbekannte literarische
Ästhetik. Die Radikalität dieser Ästhetik bestand in einer Ablehnung konventioneller
Erzählmuster und Hinwendung zu einer konsequenten Beschreibungsästhetik.
Man sprach von „Kölner Realismus“.


„Kölner Realismus“ & Theorie des „nouveau roman“
Wie beim französischen ‚nouveau roman’ pflegten diese Autoren eine geradezu
photografische Wahrnehmung der Außenwelt. Mit programmatisch antimetaphysischem
Gestus setzten diese Texte einen sinnlich konkreten Erfahrungsausschnitt
an die Stelle universeller Daseins-Modelle. Sie bedienten sich dabei
neuer literarischer Verfahren wie subjektiver Perspektiven, dem Wechsel zwischen
Nah- und Fernsicht und Techniken der Zeitdehnung und Zeitraffung. Entsprechend
der Romantheorie Robbe-Grillets sollte durch die Detailbesessenheit
des Beschreibungsstils die Auslieferung an eine objektive Wirklichkeit durchbrochen
werden. Im scharfen Fokussieren des beliebigen Details wird die Ordnung
der Dinge systematisch verwirrt und neu zusammengefügt.


Brinkmanns Kurzprosa zwischen 1965 – 1967 und der „nouveau roman“
Auch Brinkmanns Texte sind – insbesondere seine Experimente mit fotografischen
und filmischen Verfahren in der Literatur – von Robbe-Grillet inspiriert.
Programmatisch übernimmt der Autor den zentralen Begriff der Momentaufnahme,
des Standphotos in seine Arbeiten. In seiner verstreut publizierten
Kurzprosa aus den Jahren 1965-1967 haben diese Standbilder oder Aufnahmen
mit feststehender Kamera literarisch Ausdruck gefunden: in Prosastücken
wie „Nichts“, „Nichts weiter“, „Das Alles“, „Strip“ und „London Picadilly Circus“.
Während in „Nichts“ mit dem zerstreuten Blick eines Straßencafebesuchers auf
den Strom der vorbeiziehenden Masse an einem heißen Sommertag die flirren4
den Bewegungen der Großstadtstraße festgehalten werden, zeigen die Erzählungen
„Nichts weiter“ und „Das Alles“ Momentaufnahmen aus dem häuslichen
Lebensalltag des Autors. Die Prosastücke „Strip“ und „London Picadilly Circus“
sind durch die Adaption filmischer Techniken geprägt, die sich an Warholschen
Filmexperimenten orientieren.


Rolf Dieter Brinkmann – besonderer Bezug zu London und Picadilly Circus
London wird für Rolf Dieter Brinkmann zum schicksalsträchtigen Ort. Seit 1965
unternahm er mehrfach Reisen in die britische Hauptstadt. Dort entstand auf einem
Notizzettel auch das vermutlich erste deutschsprachige Popgedicht mit dem
englischen Titel „To Lofty with Love“. Nur 200 Meter von jenem Piccadilly Circus
entfernt, an dem sein Verfasser fast genau zehn Jahre später mit 35 Jahren von
einem Auto überfahren werden sollte. Ein tragischer Unfall mit tödlichem Ausgang.
Groteskerweise vom Autor selbst in einer ihn kennzeichnende Drastik in dem 1967
entstandenen Gedicht „Auto“ vorweggenommen: „Der Wagen / setzte / noch /
einmal zu- // rück, und / die Hin- / terreifen / zerquetsch- // ten endgültig / ihm die /
Brust / du lieber Him- // mel, sagten / sie / das / muß schmerz- // haft sein, so /
dazu- / liegen / im eigenen Dreck.“


„London Picadilly Circus“ – Inhalt
„Um die Atmosphäre eines Zimmers zu beschreiben, müsse er Dinge beschreiben,
die Farbe, Tapeten, die Bettdecke“, dies sagte er am 23. April 1975, als er sich in
London aufhielt, wenige Minuten, bevor er bei einem Verkehrsunfall ums Leben
kam. Diese charakteristische Beschreibungstechnik kennzeichnet auch die 10
Jahre vorher exklusiv für die Sendereihe „Straßen und Plätze“ im Deutschlandfunk
entstandene Erzählung „London Picadilly Circus“. Die Konsequenz, mit der Brinkmann
diese Beschreibungsästhetik umsetzt, ist radikal. Ebenso die Form: Die
Erzählung besteht aus nur einem einzigen Satz. Und der Text ist fragmentarisch: Er
setzt so unvermittelt ein, wie er aufhört. Dennoch folgt er einer geschlossenen
kreisförmigen Struktur: Die Erzählung beginnt und endet mit den gleichen Wortfeldern
„ausgebrannt, erloschen, leer und tot“. Dazwischen beschreibt der Text
minutiös den Londoner Platz: Er schildert die Häuserfassaden mit der Leucht-
Reklame, folgt dem Gewirr von Neonröhren, den Eisenhalterungen, den zahllosen
Glühbirnen, blendet auf den chaotischen Großstadtverkehr, die Menge der Passanten
und hält plötzlich kurz bei dem historischen Brunnen auf der Mitte des
Platzes inne, der ruhenden Verkehrsinsel inmitten der strömenden Automassen:
eine achteckig gebrochene dreiteilige Skulptur mit Eros und dem einem griechischen
Tempel nachgeahmten Apitraph. Dann schwenkt er wieder zurück auf die
Reklame der Häuserfronten, auf Wrigleys Chewing Gum mit dem Werbespruch
„Healthful, delicious, satisfying“, auf die Message „Smoke!“, gleich neben Schweppes,
zu Maxfactor mit der Werbebotschaft „for beauty, charme“, weiter zu Osrams
Headline „life for your lightning“. Detailversessen wird das öde, graue, eintönige Bild
des Platzes, die architektonische Gliederung der Fassaden und die Straßenzüge
nachgezeichnet: Dächer, Schornsteine, Säulen, Giebel, Kapitelle, Rundbögen,
Friesstreifen; die Coventry Street, Shaftsbury Avenue, der Hey market und der
Thunderball London Pavillon.


„London Picadilly Circus“ = „postmoderner Naturalismus“
Wie die anderen frühen Prosa-Texte liest sich „London Picadilly Circus“ auf den
ersten Blick wie ein Stück postmoderner Naturalismus, der durch die Verwendung
filmischer Mittel auf die Spitze getrieben wird. Der ausschließlich rezeptive Erzähler
bleibt distanziert außen vor und ist doch mitten drin: Er versucht, dem Sog der
Außenwelt gerecht zu werden, indem er sich allen Sinnesorganen hingibt. Der Text
bewegt sich im Spannungsfeld zwischen permanenten, nicht zu stoppenden, den
Protagonisten beherrschenden Sinneseindrücken und dem distanzierten Kamera-
Blick. Brinkmann später dazu in „Rom, Blicke“: „Manchmal dachte ich, daß meine
guten scharfen Augen mir nur hinderlich waren beim Umherblicken, denn jede
schäbige unbedeutende Einzelheit musste ich auch sehen. Dasselbe ist mit den
Gerüchen und dem Tastsinn./ Vielleicht zwingt eine Störung des Sehsinns zu
schärferer gedanklicher Verarbeitung? Quasi als ein Ausgleich? Denn das genaue
scharfe Erfassen der Gegenwart mit den Augen sperrt den, der sieht, auch mächtig
in der Gegenwart ein.)“ Durch systematische Verschachtelungen und Wiederholungen wird der Text rhythmisiert. Die exzessive Verschriftlichung der kubistisch verfremdeten Wahrnehmungs-
Bruchstücke erzeugt die Vorstellung einer unendlichen Variabilität eines
Themas. In endlosen Variationen umkreist die Sprache das Geschehen. Ähnlich
einer Sprach-Zentrifuge werden die Wahrnehmungen dabei einerseits auseinandergerissen
und andererseits zu einer Essenz verdichtet.


„London Picadilly Circus“ – Adaption Warholscher Filmexperimente
Der Beschreibungsterrrorismus stellt eine Zumutung an unsere Sinnlichkeit dar. Der
Hyperrealismus, die übertriebene Genauigkeit sind Effekt eines Kamera-Auges.
Das Prosastück London Picadilly Circus orientiert sich dabei am Echtzeitverfahren
der von Brinkmann sehr geschätzten Wahrholschen Filmexperimente. Brinkmann
adaptiert die feststehende Kamera in Warhols achtstündigem Film „Empire“, indem
er den Blick aus einer unveränderten Perspektive auf den Londoner Platz richtet.
Die weit aufgezogene Kamera schreitet die Umgebung ab. Das objektive Erzählerauge
orientiert sich im Raum, indem es auch scheinbar bedeutungslose Gegenstände
zueinander ordnet. Genaue Wahrnehmungsprotokolle werden erstellt, kleinste Wirklichkeitsausschnitte in mikroskopisch genaue Bildeinheiten zerlegt, neu
und verwirrend geordnet und in Beziehung gesetzt. Die einzelnen Bildeinheiten
werden mit filmischen Techniken beliebig vergrößert, wie mit Zoom langsam
herangeholt oder bewusst in Unschärfe gesetzt. Bildelemente werden überlagert,
doppelt belichtet oder scharf konturiert, Details aus ihrer Umgebung isoliert. Dabei
fällt auf, dass das Kameraauge selbst permanent präsent ist. Nicht nur das Objekt,
auch das Objektiv ist im Bild. Schreiben wie Kino. Brinkmann später dazu in „Der
Film in Worten“: „‘Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten‘ (Kerouac) ...
ein Film, also Bilder – also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter,
bilderloser syntaktischer Muster ... Bilder, flickernd und voller Sprünge, Aufnahmen
auf hochempfindlichen Filmstreifen Oberflächen verhafteter Sensibilität.“ Durch die
Adaption fotografischer und filmischer Verfahren wird der lineare Erzähltext gesprengt
und die traditionelle Schreibweise auf den Kopf gestellt.


„London Picadilly Circus“ – Wahrnehmungstraining auf höchstem Niveau
Brinkmanns „London Picadilly Circus“ ist literarisches Wahrnehmungstraining auf
höchstem Niveau. Der Text verstösst bewusst gegen gebahnte Wahrnehmungsabläufe.
Neue, fremde Darstellungsformen eröffnen dem logozentrischen Medium
Text eine neue sinnliche Qualität. Und sie stellen Wirklichkeit als ungesicherte und
ihre Deutung über gängige Ordnungsstrukturen von Zeit und Raum als fragwürdig
heraus. Wirklichkeit wird hier zur fiktionalen Konstruktion des Wahrnehmenden,
dessen technische Verfahren die Erzählung seziert und verfremdet, um unbewusste
Wahrnehmungsabläufe ins Bewusstsein zu holen.

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