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Die Macht des Utopischen

Pablo de Santis: Die sechste Laterne. Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke. Unionsverlag 2007. 248 Seiten.

Kurzrezension im Rheinischen Merkur

 

“Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“ Dieses Motto Che Guevaras könnte man dem neuen Roman des argentinischen Autors Pablo de Santis „Die sechste Laterne“ voranstellen. Denn genau um die Bedeutung des Unmöglichen für das Reale geht es in seinem nicht gewöhnlichen Kriminalroman, der ohne jedes Verbrechen auskommt. Laut Balestri, der Hauptfigur des Buchs, ist jede Epoche gefragt, den Horizont nach dem Unmöglichen abzusuchen. Der biblische Turmbau zu Babel ist für den italienischen Architekten Balestri Inbegriff des Bemühens, etwas zu schaffen, von dem man weiß, dass es unmöglich ist. Eigentliches Ziel dieses Bestrebens sei es, so Balestri, auf der Erde eine Spur dieses utopischen Wunsches zu hinterlassen. Überzeugt von der Wichtigkeit eines Bauwerks, auf das wir zur Veranschaulichung des Unmöglichen zeigen könnten, macht Silvio Balestri den Entwurf eines neuen Zikkurat zur Lebensaufgabe. In New York, dem Eldorado der Wolkenkratzer-Achitektur, sucht er zu Beginn des ersten Weltkriegs sein Glück. Kurz nach seiner Ankunft aus Rom stößt er dort auf ein ungewöhnliches Museum: Ein Mann namens Caylus sammelt hier Modelle von Gebäuden, die nie gebaut wurden. Seine Grundidee: dass eine Stadt sich nicht allein durch das definiert, was ihren Raum sichtbar bestimmt, sondern ebenfalls durch die vereitelten Projekte und unerfüllten Träume. Auf Caylus Hinweis findet Balestri eine Anstellung als Aushilfskopist bei Moran, Morley & Mactran; einem kafkaesk anmutenden Architekturbüro, in dem die hierarchisch organisierten Abteilungen auf die jeweiligen Hochhaus-Stockwerke aufgeteilt sind. Die Anstellung markiert den Beginn vieler seltsamer Ereignisse. Zunächst erhält Balestri den merkwürdigen Auftrag, eine undichte Stelle im Unternehmen ausfindig zu machen. In diesem Zusammenhang kontaktiert ihn der geheimnisvolle „Club der sechs Laternen“. Das Anliegen des Geheimbundes: Die Hochhäuser sollen die richtige Botschaft aussenden, nämlich: „Dass es keine gibt. Keine Botschaft. Keine Bedeutung. Nichts.“ Nicht genug der Merkwürdigkeiten: Von einem auf den anderen Tag verschwindet auf unerklärliche Weise Balestris Frau. Aber nichts von alledem bringt Balestri von seinem Projekt Zikkurat ab, mit dem er die Grenzen der utopischen Vision der Architektur ausloten will. Von seiner unerfüllbaren Aufgabe, die „Aspekte des Möglichen vor dem gleißenden Licht des Unmöglichen herauzufiltern“, bleibt er bis zu seinem Lebensende besessen. Pablo de Santis Roman spielt gekonnt mit Verweisen und Zitaten auf seine literarischen Vorbilder, die Argentiner Borges und Casares, und vor allem Franz Kafka. Eine direkte Anspielung auf den Prager Autor findet sich in der Freundschaft Balestris mit einem Mann namens Oskar Pollak. Oskar Pollak war einer der Jugendfreunde Kafkas. Gelungen adaptiert de Santis mit der Undurchschaubarkeit des Architekturhochhauses, der Unlösbarkeit des Auftrags und der Rätselhaftigkeit der Ereignisse auch die surreale „kafkaeske“ Atmosphäre. Ein spannendes Leseereignis über die Macht des Utopischen.

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