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Der lange Atem der Heimatlosigkeit

Pauline de Bok: Blankow oder Das Verlangen nach Heimat. Weissbooks Verlag, Frankfurt/Main 2009. 310 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 4, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 28. Januar 2010, S. 21.

 

ROMAN Ein verfallener Hof in Mecklenburg-Vorpommern wird durch die niederländische Schriftstellerin Pauline de Bok zum wechselvollen Schauplatz der Geschichte.


Was ist das für ein Ort, der für zahllose Menschen ein Zuhause, aber für keinen von ihnen je zur Bleibe wird? „Blankow“ nennt ihn Pauline de Bok in ihrer fiktiven Dokumentation. Die Erzählerin beschreibt ein einsames Gehöft im Niemandsland zwischen Feldern, Wiesen und Brachen, irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. Seit den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts stehe der Pachthof des Gutes Dornhain auf diesem dünn besiedelten steinigen Fleckchen Erde, schickt sie vorweg. Geschichte, zeigt ihr historischer Kurzabriss von Blankow, wurde in den zweihundert Jahren hier nicht geschrieben. Und dennoch: Der Ort ist voller Geschichten.

 

Menschliche Schicksale, anhand derer sich die große Historie am besten erzählen lasse, erklärt die niederländische Journalistin und Autorin in ihrem Nachwort. So wahrhaftig wie möglich habe sie die Berichte der Menschen übernommen, schreibt de Bok dort weiter. Dennoch lege sie wert darauf, zu betonen, dass es sich bei ihrer dokumentarisch fundierten Geschichte von Blankow letztlich immer um die Komposition einer Wirklichkeit handele. Schließlich habe jeder der ehemaligen Bewohner „sein eigenes Blankow“.

 

Auch sie selbst, die während ihrer Recherchen mit ihrer ganzen Persönlichkeit in die Vergangenheit Blankows eintaucht. Erst nach und nach wird ihr klar: Ihre Suche gilt nicht nur der Seele des Ortes, sondern auch ihrer eigenen. Umgekehrt füllt die Erzählerin Blankow mit ihrem persönlichen Leben und Erleben. Von den Grundmauern auf lernt sie den verfallenen Hof kennen, als sie Freunden aus Berlin das Gebäude als Sommerdomizil instandzusetzten hilft. In vielen einsamen Monaten mit ihrem Hund auf dem menschenverlassenen Hof macht sie sich mit jedem Fleckchen Erde vertraut. Da ist der Obstgarten mit zuletzt 1941 von Bauer Grensling gepflanzten, nun knorrigen alten Bäumen. Im Krieg hatte die fromme Familie mit der tyrannischen Großmutter das heruntergekommene Gehöft bezogen.

 

Im Frühjahr 1945 mussten sie so viele Flüchtlinge unterbringen, dass sich bis zu vierzig Kinder in einem einzigen Zimmer des Bauernhauses drängten. Das Gesindehaus, seine Ruine beherbergt heute eine Werkstatt, platzte aus allen Nähten. In den winzigen Räumen, wo heute der Putz von den Mauerresten bröckelt, wohnte auch Sina Hornwath.

 

War es dort, befragt die Erzählerin die alten Farbsprenkel an der Wand, wo beim Einmarsch der Russen die zweiundachtzigjährige Tagelöhnerwitwe Hornwath vergewaltigt wurde? Die Mauern schweigen, genauso wie die kleine Allee mit Apfel- und Birnbäumen, in deren Reihe eine Lücke klafft. Ein Williams Christ stand da, von Bauer Huffel gefällt am Tag nach der Beerdigung seines Bruders, der im Westen gelebt hatte.

 

1957 hatte Grensling dem Druck der Landwirtschaftskollektivierung in der DDR aufgegeben. Jakob Huffel leitete von nun an die LPG. Er wird als letzter Bauer auf Blankow über vierzig Jahre seines Lebens dort verbringen; bis ins hohe Alter, am Schluss allein mit seinen Kaninchen in der baufälligen Ruine. Seine letzte Nachbarin ist Anna Spienkos, die 1960 mit ihrem Mann noch dort eingezogen war. Spienkos waren Flüchtlinge, wie viele der Menschen auf Blankow, für die der Ort zwar jahrelang ihr Zuhause, aber doch nie mehr als eine Durchgangsstation bleiben wird.

 

Ihre Hinterlassenschaft? Alte Steine, die „Das Verlangen nach Heimat“ atmen. Aus diesem atmosphärischen Feinstaub, Gesprächen mit den wenigen noch lebenden Zeitzeugen, spärlichem Archivmaterial und einem Schuhkarton mit ein paar alten Fotos, Broschüren und Dokumenten rekonstruiert die Erzählerin Lebensgeschichten. Biografien, die so anschaulich Geschichte erzählen, dass selbst die trockensten Fakten lebendig werden: wie Details zu Pacht-Konditionen, Bodenreformen, Jagd-Gesetzen oder dem Aufnahmeantrag für die Ingenieurschule von Annas Spienkos Sohn Walter. Ein spannendes Dokument, wenn man, wie die Erzählerin, nicht nur auf die Fragen des DDR-Formulars schaut, sondern auch auf die, die nicht gestellt werden – wie die nach biografischen Daten zwischen 1941 und 1945. Kaum etwas ist aussagekräftiger als die zahllosen Varianten des Aussparens sowie die Erinnerungslücken und das Schweigen der Menschen. Historischen Fundstücken wie Hohlräumen begegnet die Autorin mit detektivischem Spürsinn und Wissen, mit diskreter Sensibilität und großem Respekt. Pauline de Boks Buch „Blankow oder Das Verlangen nach Heimat“ ist in mehrfacher Hinsicht beeindruckend: weil es sich spannend liest,  weil es Geschichte aus Lebensgeschichten modelliert, und weil es uns das Eigenleben der Dinge als Sediment der Vergangenheit zu lesen lehrt.

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