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Erinnerungen trüben den Blick

Assia Djebar: Das verlorene Wort. Unionsverlag, Zürich 2004. 248 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 09,  03.03.2005, Seite 22

 

ROMAN Assia Djebar beschreibt Algerien als poetische Chiffre des Heimwehs


Ein einsamer Strand unweit von Algier. Der helle Sand füllt alles aus vor der Pforte und der steinernen Treppe, die in das karg eingerichtete weiße Haus führt. Einsamkeit, Zeitlosigkeit und Stille. In den lichtvollen Herbsttagen mit dem sanften Schlagen der Wellen unter der Terrasse fließt alles ineinander. Der richtige Ort, so scheint es, um nach zwanzig Jahren Pariser Exil endlich zum Schreiben und zu sich selbst zu kommen. Denn mit diesem Ziel ist Berkane, der Protagonist von Assia Djebars neuem Roman „Das verlorene Wort“, in seine Heimat Algier zurückgekehrt.

 

Leidenschaftliche Briefe an die langjährige französische Lebensgefährtin Marise schreibend, ohne sie je abzuschicken, löst er sich zögernd und schmerzvoll von seinem Leben in Paris. Und wie das Meer in langsamen Wellen heranrauscht, als wolle es unter sein Lager gleiten, werden im Gegenzug die Erinnerungen an die Kindheit in Algerien wieder in sein Bewusstsein gespült. An die Kasba von Algier mit „diesem Magma der Gerüche von Früchten oder gegrilltem Fleisch, dem Wirrwarr der Geräusche . . ., dem gedrängten Innenhof, in dem seine Mutter die Wäsche wusch . . ., den verschleierten oder nur halb bedeckten Frauen, die . . . Straßen voll Begehren, . . . die Dachterrasse mit dem Blick auf das Meer und den alten Friedhof“.

 

Aber in die vermeintlich orientalische Idylle dringen die ernüchternde Gegenwart und die verdrängte Vergangenheit. Das Viertel, seine „houma“, ist heruntergekommen. Und es steigen Bilder der Gewalt und Unterdrückung in ihm auf. „Nur mit der Wendung des Kopfes und dem Schließen der Augen versetzte ich mich zwanzig Jahre zurück in den Laden meines Onkels mütterlicherseits, Mouloud mit dem Spitznamen Tchaida, der nun schon lange tot ist. Der Friseur . . . erkannte mich . . . Und die zugleich belastende und leichte Vergangenheit stieg jäh an die Oberfläche.“ Während des Befreiungskrieges wird der Onkel wegen Übertretung der Ausgangssperre kurzerhand von französischen Soldaten auf der Straße erschossen, und Berkane selbst droht von der französischen Schule verwiesen zu werden, nur weil er ein Bild mit der algerischen Flagge gemalt hat.

 

Eine drei Nächte dauernde, höchst erotische Beziehung zur Algerierin Nadja, die er „ya khti“, seine Schwester, nennt, führt Berkane noch tiefer an seine heimatlichen Wurzeln und seine eigene Sprache heran. Ihre ebenfalls von politisch motivierter Gewalt geprägte Lebensgeschichte hat sie, um zu vergessen, wie ihn in die Fremde getrieben. Im Spiegel seiner Liebe zu Nadja erkennt Berkane die eigene heillose Heimatlosigkeit, der er nur durch die schonungslose Aufarbeitung der persönlichen Geschichte entkommen kann. Schreibend macht er sich auf die Spurensuche nach seiner Vergangenheit, die ihn in die Straflager führt, in denen er, wie viele seiner Landsleute, als Jugendlicher inhaftiert und brutal gefoltert wurde. Bis er 1993 auf einer Reise zum Lager „Marschallscamp“ spurlos verschwindet. Vielleicht von radikalen Islamisten ermordet?

 

„Das verlorene Wort“ ist in dem unverwechselbaren, gleichzeitig leichtfüßigen und schwermütigen, hochpoetischen und realitätsnahen Tonfall Assia Djebars geschrieben. In einer, so Nadja, für algerische Frauen typischen „Sprache der Liebe und des Lebens, selbst wenn sie klagen oder beten. Es ist eine Sprache der Lieder, auch mit Zwischentönen, sie kennt die Ironie und den bitteren Beigeschmack.“ Genauso charakteristisch wie die kunstvoll arabeske Konstruktion, die hier konsequent mit der Zahl drei spielt, durchbrochen nur vom Wendepunkt in der Mitte des Buches.

 

Vielfältige Handlungsfäden und Bildmotive werden zu ornamentalen Mustern verwoben, unterschiedliche Zeitebenen, Erzählperspektiven und -stimmen fügen sich zu einem orientalischen Mosaik. Ein fesselndes Buch, das den Leser vom ersten Satz an magisch in die Vergangenheit des Protagonisten und in die Geschichte und Gegenwart Algeriens hineinzieht. Von schonungsloser Radikalität, die am Ende jeden Trost verweigert und nur die Sehnsucht, „el ouehch“, zulässt.

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