// Startseite // Buchkritik // 

Ungelebte Träume

Laura Doermer: Trappentreu. Roman einer Familie. Wallstein Verlag 2007. 383 Seite.

Sendung im Deutschlandfunk vom 17.09.2007, Moderation Hubert Winkels

http://www.deutschlandfunk.de/ungelebte-traeume.700.de.html?dram:article_id=83292
fileadmin/dokumente/Audios/sabine_gruber.mp3Beitrag hören (Zitate gesprochen von Sylvia Göldel, DLF-Sprecherensemble)

In ihrem Roman "Trappentreu" spannt Laura Doermer den Erzählbogen vom München der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts bis in die Jetztzeit. In jeder Generation kommen Kinder zur Welt, bevor eine "ordentliche" Familie gegründet ist. Die Männer kommen und gehen wie Krisen und Weltkriege, die Frauen müssen alles zusammenhalten.

Was ist stärker als die Macht ungelebter Träume? Marie jedenfalls will sich mit dem Tagelöhner-Leben ihrer Eltern nicht zufrieden geben. Früh treibt es das Mädchen weg von dem 1400 Seelen kleinen fränkischen Marktflecken Allersberg und raus aus den armseligen Verhältnissen der siebenköpfigen Familie. Noch nicht volljährig setzen die Eltern sie mit Schwester Vroni in die Postkutsche nach München, ihrem Sehnsuchtsort. Dort verdingt sie sich als Kammerzofe bei Familie Lanzinger. Gerne schlüpft Zopfmarie heimlich in die Kleider ihrer Herrin. Vielleicht kann sie die gnädige Frau sogar einmal beerben? Schließlich hat Vroni ja auch ihren Dienstherren geheiratet. Aber der Wunsch, eine gute Partie zu machen, bleibt Illusion.

Ihr Schicksal heißt Adam Fassbender, ein junger Schreinergeselle, und ihre Zukunft liegt in der Trappentreustraße 46 im Westend, einem Arbeiterviertel. Im Jahre 1902 ziehen die beiden mit dem vorehelich gezeugten Sohn Georg und seiner kleinen Schwester Therese dort ein.

Dokumentarisch mutet Laura Doermers Roman "Trappentreu" an, nicht nur weil ihre Familiengeschichte der Chronologie der Generationen folgt, sondern auch weil sie den einzelnen Kapiteln historische Fotos der porträtierten Familienmitglieder voranstellt und die Biografien unaufdringlich mit geschichtlichen Fakten anreichert. Die Erzählerin bleibt weitgehend im Hintergrund. Mit diesem diskreten Erzählstil verstärkt sie den Eindruck des Dokumentarischen und Authentischen. Für Marie und die folgenden Generationen wird die Trappentreu zum Inbegriff verpassten Lebens. So wie dort in den Schubfächern unter den Fensterbrettern seit Jahren schmutziges Regenwasser vor sich hinmodert, sitzen auch Marie und Adam dort in ihrem Elend fest wie der

"Schwamm, der sich von den Kellermauern allmählich bis in die oberen Stockwerke ausbreitete. Das Haus und die Not waren eins. All das hatte an ihrem Lebensgerüst genagt wie Rost, bis es baufällig war und nur noch gehalten wurde von Gewohnheit und Pflicht."

Zuletzt dreht sich Maries Lebenszentrum nur noch um den Küchentisch. Sie sucht den einzig möglichen Ausweg im Selbstmord. Tochter Therese ist von Anfang an klar: In der Trappentreu bleibt sie auf keinen Fall. Ihr Glück liegt anderswo: in Berlin. Aber auch die Schuhverkäuferin verschlägt es in die Familienwohnung im Westend zurück. Als sie von einer Affäre mit einem verheirateten jüdischen Verehrer ungewollt schwanger wird, muss sie mit der kleinen Lieselotte wieder zu ihrem Vater in die Trappentreu ziehen:

"Indes schien sie an Nummer 46 festzukleben [...]. Die Eintönigkeit der Geräusche des Hauses, das Türenschlagen am Morgen, [...], das wütende Schlagen des Teppichklopfers auf den an der Teppichstange im Hof hängenden falschen Perser, das leise Tratschen der Frauen im Treppenhaus."

In Lieselottes Lebenslauf wiederholt sich das Schicksal von Mutter und Großmutter. Wie Therese und Marie sehnt sie sich ständig aus der Armseligkeit der Trappentreu und bleibt doch an ihr hängen. Sogar noch als sie tagsüber als Vorführdame im eleganten Modesalon arbeitet, muss sie abends in die Wohnküche Thereses zurück. Dort kümmert sich die Oma um die uneheliche Tochter Nore.

"Jeden Morgen verließ sie ein Haus, dessen sie sich zunehmend schämte [...] Bereits in der Brienner Straße war es ihr, als müsste sie ihre Schuhe vom Dreck des Westends befreien. Und jeden Abend, beim Gehen durch die Einfahrt von Nummer 46 empfand sie ihre Heimkehr als einen Akt grenzenloser Entwürdigung."

Erst als Lieselotte Kammersänger Mayrhofer heiratet, scheint die Zeit der ungelebten Träume vorbei zu sein. Mit der gemeinsamen Tochter Marta zieht sie in seine Villa. Damit hat die ständige finanzielle Not ein Ende. Aber nur vorläufig, denn die Ehe zerbricht nach kurzer Zeit. Wieder einmal vaterlos, sucht die zersprengte Familie nach dem Krieg im zerbombten München noch einmal in der alten Familienwohnung Schutz. Erst als Therese stirbt, scheint die Trappentreustraße endgültig der Vergangenheit anzugehören. Und nach Lieselottes Ehe mit Dr. von Bettenhausen hält endlich ein wenig Wohlstand Einzug. Aber weder sie noch ihre Töchter Nore und Marta, genannt Senta, werden glücklich. Keine Familienkonstruktion hat Bestand, und auch die Enkel wachsen vaterlos auf. Alle haben sich ihr Leben anders vorgestellt. Denn was ist stärker als die Macht ungelebter Träume? Die Ohnmacht gegenüber dem Leben, in das man hineingeraten ist.

Genau dafür steht Trappentreu. Und das ist der Grund, warum Laura Doermers Familiengeschichte den Leser direkt gefangen nimmt und nicht so schnell wieder loslässt. Denn wer kennt sie nicht: die eigene Trappentreu - einen Ort der ungelebten Träume, an dem jeder auf irgendeine Weise hängenbleibt? Schade, dass die Lebensgeschichten der fünf Generationen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 21. Jahrhunderts am Ende etwas zu verwischen beginnen. Denn "Trappentreu" ist eine lebendig erzählte Familiengeschichte mit interessanten Frauenporträts. Liebevoll und mit großem Respekt nähert sich Laura Droemer jeder ihrer Figuren. Ein starkes, lesenswertes Buch.

|