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Begegnung von Orient und Okzident


Nava Ebrahimi: “Das Paradies meines Nachbarn“. btb, München. 224 Seiten.

Sendung vom 28.07.2020 im Deutschlandfunk, Moderation Angela Gutzeit
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/11/17/buechermarkt_17112020_komplette_sendung_dlf_20201117_1610_07d9fb80.mp3

Beitrag hören  (Zitate gesprochen von Agnes Poller und Jürgen Albrecht, DLF-Sprecherensemble)


Für ihren Erstling „Sechzehn Wörter“ wurde sie 2017 mit dem Debütpreis des „Österreichischen Buchpreises“ ausgezeichnet: Nava Ebrahimi. Die 1978 in Teheran geborene Autorin studierte Journalistik und Volkswirtschaftslehre in Köln und arbeitete als Redakteurin bei der Financial Times Deutschland und der Kölner Stadtrevue. Bereits 2007 war sie Finalistin beim Literaturpreis Open Mike. 2013 nahm sie an der Bayrischen Akademie des Schreibens teil. Seit 2012 zog sie nach Graz. Wo sie heute mit ihrer Familie lebt und als freie Schriftstellerin arbeitet. Nach ihrem vielversprechende Debüt gilt sie als eine der aufregendsten Gegenwarts-Schriftstellerin in deutscher Sprache. Jetzt hat die Deutsch-Iranerin ihren zweiten Roman vorgelegt: „Das Paradies meines Nachbarn“.

 

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„Ich ist der Andere“ lautet die geheime Formel dieser Geschichte. Mensch sein bedeutet Einzustehen für den Anderen. So sieht es der litauisch-französische Denker Emmanuel Lévinas. Seine Beziehungs-Philosophie ist ein Gegenmodell zur abendländischen, traditionell auf das Subjekt zentrierten „Egologie“.

 

Eine Geschichte von Schuld und Sühne

 

Nava Ebrahimi bezieht sich schon im vorangestellten Zitat ihres Buches auf den Philosophen. Aus seiner Ethik entwickelt Ebrahimi eine Erzählung vom Format einer antiken Tragödie. Erzählt wird die komplexe Geschichte einer schicksalshaften Verstrickung, die in ihren vielfältigen Verknüpfungen beim Lesen oft kaum aufzulösen ist. Ebrahimis vielschichtiger Text ist im Hier und Jetzt verortet und gleichzeitig voller philosophischer Bezüge und biblischer Symbole.

 

Der Star-Designer Ali-Najjar wird Chef einer Münchener Agentur. Er gibt vor, im ersten Iran-Irak-Krieg in den achtziger Jahren Kindersoldat gewesen zu sein. Die Härte, die er sich dort angeeignet habe, sei der Grund für seinen jetzigen Erfolg. Der Egomane präsentiert sich wie ein rücksichtsloser Schöpfergott, für den statt Ethik nur noch Ästhetik und statt Kollegialität nur noch seine eigene Karriere zählt.

 

„Ich gebe nichts darauf, zu den Guten zu gehören. Ich will nicht wissen, wie viele Menschen mir schon den Tod oder wenigstens die Krätze an den Hals gewünscht haben. Heulend auf dem Klo ihrer Agentur. (…) Ist mir vollkommen egal. (.) Ich will die Gestaltbarkeit der Welt zeigen. Und wer gestalten will, muss rücksichtslos sein. (…) Wenn das, was du tust, keine Liebe und keinen Hass erzeugt, dann hast du etwas falsch gemacht.“

 

Aktuelles Zeit-Porträt

 

Zu seinen Mitarbeitern gehört Sina. Der deutsch-iranische Mit-Dreißiger flieht vor seiner Midlife-Crisis und dem neuen Chef ins Sabbatical. Doch Ali-Najjar will, dass Sina mit ihm nach Dubai fliegt.
Anlass ist ein Treffen mit seinem Zieh-Bruder Ali-Reza. Nach der Flucht Ali-Najjars hatte seine Mutter Ali-Reza als Ziehsohn aufgenommen. Kurz vor ihrem Tod bittet sie Ali-Reza, Ali-Najjar einen Brief von ihr zu übergeben. Jetzt möchte Ali-Reza der Bitte der verstorbenen Mutter nachkommen und sich mit ihm in Dubai treffen.


Die Mutter hatte ihren leiblichen Sohn damals zur Flucht nach Deutschland überredet. Aus Angst, der Vierzehnjährige würde im Iran als Kindersoldat eingezogen. Die Mullahs lockten Kinder wie ihn in den achtziger Jahren in den Iran-Irak-Krieg, mit dem Versprechen, nach ihrem Märtyrertod würden sie direkt ins Paradies gelangen. Die Mutter blieb in Teheran. Ali-Najjar machte Karriere in Deutschland.
Der Brief der Mutter enthüllt eine Tragödie: Sie habe nach Ali-Najjars Flucht Ali-Reza buchstäblich von der Straße aufgenommen und ihn zu seinem Schutz als ihren eigenen Sohn ausgegeben. Doch was die Mutter damals nicht weiß: Ihr Sohn Ali-Najjar hatte sich vor seiner Flucht freiwillig verpflichtet.
Die tragische Folge: Ali-Reza nimmt mit seinem Namen auch das Schicksal Ali-Najjars auf sich. Reza wird als sein Stellvertreter eingezogen und als Kindersoldat zum Räumen von Minen eingesetzt. Er überlebt schwer verletzt und sitzt seitdem im Rollstuhl. Kurz vor ihrem Tod schreibt die Mutter an Ali-Najjar:

 

„Mein Sohn, (…) Du trägst keine Schuld, und du trägst sie doch. Ich schätze, das heißt es zu leben. Zu überleben. (…)
Ich kann dir nur einen Rat geben, oder nein, ehrlich gesagt ist es ein dringender, letzter Wunsch: Schieb Ali-Reza nicht aus deinem Leben. Nimm dich seiner an. (…) Ich kann es dir nicht genau erklären, aber bin überzeugt davon, dass es dir nicht gut gehen kann, wenn es ihm schlecht geht. Sieh ihn als dein zweites Ich.
In Liebe
Deine Mutter
(…)
Du warst schön. Gegen Deine Liebe ist alles nichts.“

 

Ali-Najjar, der nie im Krieg war, aber fürchtet die Begegnung mit Ali-Reza. Deshalb soll Sina in seinem Namen den Brief seiner verstorbenen Mutter in Empfang nehmen.

 

Begegnung von Europa und Orient

 

Auch Sina ist Deutsch-Iraner – so wie die Autorin selbst. Dazwischen zu stehen, heißt, nicht zu wissen, wohin man gehört. Aber in zwei Welten beheimatet zu sein, ist auch von Vorteil, so muss man die Ebrahimi wohl verstehen. Sina bedeutet „der Starke“. Ironischerweise ist es gerade seine Schwäche, die ihn stark macht: nämlich die Zugehörigkeit zu zwei Welten. Mit und in ihren Figuren lässt die Autorin Europa und Orient aufeinandertreffen. Das Überraschende: Sina und Ali-Reza verstehen sich. Sogar jenseits der Sprache. Obwohl Ali-Reza seine Geschichte auf Persisch erzählt. Was Sina kaum versteht. Und noch etwas Erstaunliches passiert: Beide empfinden das Treffen als Bereicherung.

 

„Sina sah noch einmal genauer hin und erkannte hinter seinem Spiegelbild die Augen des Mannes. Randvoll mit Flüssigkeit fokussierten sie ihn, und für einen kurzen Moment lang vergaß er, dass er hier falsch war, dass jemand anders hier sitzen und in diese Augen blicken sollte. Das spielte keine Rolle mehr. Alles Trennende löste sich auf, nichts existierte mehr bis auf das Leid dieses Mannes, das Sina in diesem einen kurzen Moment nicht mehr von seinem unterscheiden konnte. Auf eine bizarre, vielleicht sogar kranke Weise (…) beglückte ihn das.“

 

Auch Ali-Reza erkennt Sinas Unglück. Ihr Treffen zeigt, dass sich Leid nicht gegen Leid aufrechnen lässt. Sina wiederum begegnet in Ali-Reza stellvertretend dem Schicksal zigtausender Kindersoldaten, die im Iran-Irak-Krieg in den achtziger Jahren ums Leben kommen, von Minen verstümmelt oder bei Giftgasangriffen verletzt werden. Der Westen, auch Deutschland, habe mit seinen Waffenexporten im ersten Iran-Irak-Krieg in den achtziger Jahren an ihrem Leid verdient und sei für das Morden mit verantwortlich, sagt Ali-Najjar, als er bei einem Interview nach seinem vermeintlichen Schicksal als Kindersoldat befragt wird.
Der Titel von Nava Ebrahimis Roman „Das Paradies meines Nachbarn“ bekommt hier seine ganz konkrete politische Bedeutung: Denn unser westliches Paradies ist mit der Hölle unserer östlichen Nachbarn erkauft. Doch Nava Ebrahimi hält in ihrem Roman nicht nur dem Westen den Spiegel vor. Sie zeigt auch die Grausamkeit der islamischen Mullahs und ihr Versprechen auf ein Paradies im Jenseits, mit dem sie unzählige Märtyrer für ihren Glauben in den Tod treiben. Die iranisch-deutsche Autorin lebt selbst zwischen zwei Welten. Ihr literarischer Dialog mit „dem Anderen“ ist auch eine Begegnung mit sich selbst.
Ebrahimis polyphone Erzählkonstruktion bildet die Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven auf kunstvolle Weise ab, indem sie neben der allwissenden Erzählerin auch mehrere ihrer Figuren als Ich-Erzähler zu Wort kommen lässt. Nava Ebrahimi ist mit ihrem spannenden und tiefgründigen Roman ein kritischer Blick auf beide Welten gelungen. Sie macht „Das Paradies meines Nachbarn“ zum literarischen Ort der Begegnung, ganz im Sinne der Sozialphilosophie Emmanuel Lévinas. Sein Leitsatz „Ich ist der Andere“ wird in ihrer ausgeklügelt konstruierten Erzählung auf eine Weise lebendig, die keinen unbeteiligt lässt. Denn Nava Ebrahimi nimmt jeden Leser mit in die Verantwortung.

 

 

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