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Den Himmel unter den Füßen

Oswald Egger: Euer Lenz. Suhrkamp Verlag, 2013. 240 Seiten.

Rezension vom Mai 2013 im literaturhaus.at

http://www.literaturhaus.at/index.php?id=9986

Wer sich schon einmal auf den Kopf gestellt hat, den Himmel unter den Füßen, dem erscheint die Welt wunderbar und unheimlich zugleich. Mit der Eindeutigkeit von oben und unten geht, so scheint es, auch die Schwerkraft der Wörter verloren.


Vergeblich sucht der Kopf in gewohnten Begriffen zu ordnen, was das Auge plötzlich nur noch als ununterscheidbares Durcheinander wahrnimmt. Genau so ergeht es Lenz, als er in Georg Büchners gleichnamiger Novelle "durchs Gebirg" wandert. Während der mit dem Wahnsinn kämpfende Lenz in menschenfeindliche Hochgebirgsregionen steigt, droht ihn die Natur, mal im ewigen Eis, mal unter Felsmassen oder in reißendem Wasser, gewaltsam zu verschlingen. Nur kurze Momente lang fühlt Lenz sich aufgehoben: in der natürlichen Harmonie der besten aller möglichen Welten.

Euer Lenz heißt Oswald Eggers neue abenteuerliche Sprach-Expedition "durchs Gebirg", die sich auf den Spuren der vom Stürmer und Dränger Jakob Michael Reinhold Lenz inspirierten, von Schizophrenie gequälten Hauptfigur Büchners bewegt. Auch Egger steigt in seinem Text hoch hinauf: Bis an die Grenzen der Sprache, bis an die Ränder des Wahrnehmbaren erforscht er die Bedingungen der Möglichkeit, sich selbst und damit überhaupt etwas zu erkennen. Der Einleitungstext Alineas stellt gleichsam die karge Ausrüstung für die Forschungsreise in menschenfeindliche Sprach- und Denkregionen vor. "Alinea", aus dem Lateinischen a linea, "von der Linie weg", markiert das Ende eines Absatzes im Text und damit das universelle Grundproblem menschlicher Erkenntnis überhaupt: Wahrnehmen, Denken und Sprechen ist nur "Absatz für Absatz", das heißt, im zeitlichen Nacheinander möglich. Gleichzeitigkeit, mithin das Erfassen jeglicher Einheit – von Wort und Ding, Ich und Welt, Körper und Geist – ist ausgeschlossen. Dass er diese Reise an den "Grund und Grat" der Sprache – ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Projekt – dennoch in Angriff nimmt, zeugt von Oswald Eggers ausgeprägten Sinn für Ironie. Der Poet hält sich in Euer Lenz schmunzelnd ein weiteres Mal den "Sprachspiegel" vor.

In Lenz' Schatten, quer "durchs Gebirg", mitten hinein ins Maßlose, Unzählbare und Unberechenbare der Natur geht die Reise. Ohnmächtig erlebt Lenz die Gewalt des Organischen. Unfähig, die Naturphänomene mit seiner unzureichenden sprachlichen Ausrüstung auch nur in Ansätzen begrifflich zu erfassen. Hilflos und doch faszinierend wirken seine Versuche, Worte für Amorphes, Fließendes und Oszillierendes zu finden. Unversehens meint er in den chaotischen Verästelungen der Bäume und Blätter doch wieder Gitter und Netze, in Schneekristallen doch wieder vertraute Strukturen zu erkennen. Auch im von Gräben unterhöhlten und von Wasser unterspülten wilden Geschiebe der Felsen möchte er eine geheime Ordnung entdecken. Selbst seine vermeintlich vorsprachliche Wahrnehmung scheint hier noch von der Sprache geprägt. Lenz' Sinneseindrücke rasten immer wieder, wie automatisch, in das gelernte Sprachgitter ein.

Nicht nur die Natur, auch sich selbst vermag Lenz nur durch den Sprachspiegel seiner Alter Egos "Linz" und "Lunz" zu erkennen. "Ich bin mir einer, wenn ich mir einer bin", wird zum ironischen Leitsatz seiner vergeblichen Selbstvergewisserung. Lenz' Schizophrenie ist ein tragikomisches Bild für die unhintergehbare Zweiteilung menschlicher Erkenntnis. Eine Polarität, die Oswald Egger in unzählbaren Anspielungen und Varianten gleichsam beschwört; in der aussichtslosen Hoffnung, ihre unüberwindbaren Grenzen doch, wenigstens einige Wörter lang, zu durchdringen. Denn der Riss zwischen Raum und Zeit geht durch die Wörter selbst. Genau dort spürt Oswald Egger ihn unermüdlich auf: in Begriffen wie "selbander", einem altertümlichen Wort für "zu zweit", in "Diplen", Doppelblockflöten mit zwei Blasrohren, oder im "Demogorgon", einem von zwei Müttern geborenen zweiköpfigen Dämonenprinzen.

Oswald Egger sucht den Ausweg aus dem sprachlichen Dilemma, der "Kommödie des Verstehens" in der Ironie. Mit seiner hintergründigen und tiefsinnigen poetischen Spracharbeit spielt er die konstitutiven Gegensätze Wort für Wort gegeneinander aus. Sein Programm: eine Poetik der "diskreten Stetigkeit". "Diskretus" heißt lateinisch "fähig, unterscheidend wahrzunehmen" und steht für das zweiwertig aufgebaute Denk- und Sprachsystem. Dieses dichotomische Denken ist gänzlich unvereinbar mit dem Phänomen der "Stetigkeit". Um der unhintergehbaren Erfahrung eines Kontinuums dennoch Ausdruck zu verleihen, setzt Oswald Egger auf das poetologische Verfahren der doppelten Negation. Dessen "ununterbrochenes" sprachliches Merkzeichen ist die Verdopplung der Vorsilbe "un".  Eggers Vision: die poetische Vereinigung des Unvereinbaren, zu der er in Phänomenen wie "flüssigen Kristallen" eine irrationale Entsprechnung sucht. Seine Utopie: eine "Aufwiedersehensfläche", in der sich die Parallelen im Unendlichen am Ende doch noch überschneiden.

Dafür gilt es, die Gegensätze immer weiter einander anzunähern. Egger entwickelt dazu seine poetische Technik des "mehrzeiligen" und "mehrspaltigen" Sprechens. Im systematischen Neben-, Unter- und Übereinanderschichten der Gegensätze überlagern sich die Bedeutungen und eröffnen neue Durchblicke in eine "vorsprachliche Wortwörtlichkeit". Potenziert wird die Mehrdeutigkeit von typografischen Verschiebungen und illustrierenden Zeichnungen, die in ihrer ungegenständlichen, an morphologische Grundmuster erinnernden Strukturen an naturwissenschaftliche Lehrbücher denken lassen.

Oswald Eggers ironisches, hochintellektuelles, aber auch sehr sinnliches Projekt ist der Versuch der  Annäherung an das Unvermittelte durch die poetische Konjugation seiner verhinderten Vermittlung. Dieser doppelte Denksalto ist ein sprachakrobatisches Kunststück, dem man als Leser nicht immer leicht folgen kann. Doch wer sich auf Eggers "Dreh der Rede" einlässt, sich in Euer Lenz mit der Sprache auf den Kopf stellt, dem scheint – für kurze poetische Sekunden – der Himmel zu Füßen zu liegen. Ein durchaus waghalsiger und anstrengender Denkakt, der jedoch immer wieder atemberaubende Blicke wie durch ein "Wurmloch zu den Wolken" öffnet.

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