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Erwin Einzinger: Ein Messer aus Odessa.

Gedichte. Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2009. 142 Seiten; geb.;
Rezension vom 09.09.2009 im literaturhaus.at
www.literaturhaus.at/index.php

Der sanfte Blick auf das Treibgut der Tage

Was geschieht, wenn nichts passiert? Randerscheinungen und Nebengedanken verhalten sich wie freie Radikale. Von der Peripherie des Gesichtsfeldes rücken sie ins Zentrum der Wahrnehmung. Das Ergebnis: ein wildes Mosaik aus Alltags- und Denkfragmenten. Diesen bunten Scherbenspiegel der "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" versucht Erwin Einzinger in seinen Gedichten festzuhalten.
"Ein Messer aus Odessa" heißt sein neuer Lyrikband. Die Gedichte präsentieren sich auf den ersten Blick eher unpoetisch. Wie Tagesprotokolle lesen sich die reimlosen, hypotaktisch oft komplexen Prosatexte mit umfangreichen Strophen und unmarkantem Zeilenfall. Ihr Inhalt: das Treibgut der Tage, wie beim absichtlosen Blick aus dem Seitenfenster wahrgenommen. Alltägliche Begebenheiten, scheinbar ziellose Gedanken und Erinnerungssequenzen werden auf eine innere Leinwand projiziert. Auf Hinterhöfen, in Krankenhäusern oder Zugabteilen entdeckt Einzinger die Nebenschauplätze, die das Leben ausmachen. Dabei löst er die konventionelle Wahrnehmungshierarchie auf und stellt unterschiedliche Realitätsebenen gleichwertig nebeneinander: Straßenszenen, Erinnerungen, Werbespots auf der Großleinwand, Gespräche im Nebenraum oder Sendungen aus dem Radio werden zu einem multisensorischen Clip montiert.

Das lyrische Ich tritt als anonymer Chronist "der laufenden Ereignislosigkeit" in den Hintergrund. Der Leser wird zum Akteur mitten im Geschehen. Ein Beispiel: Im Gedicht "Die Ungeduld wandert weiter" fährt die Kamera in eine Arztpraxis, man hört Männergesang von irgendwoher, im Hintergrund wird ein hölzernes Wochenendhaus eingeblendet, das Objektiv zoomt auf die Tür einer Werkzeugkammer, darauf ein Plakat mit der Ankündigung eines Motorradrennens, das vor siebzehn Jahren stattgefunden hat, bis nach einer quer durch einen entfernten Raum gestellte Frage der Film mit einem plötzlichen Cut endet. Als personifiziertes Kameraauge steuert der Leser, von einem unsichtbaren Regisseur gelenkt, durch den "Film in Worten." Nicht zum ersten Mal steht Rolf Dieter Brinkmann hier für Einzingers Literatur Pate. Die lyrische Revolte der Beat Generation und ihre Suche nach neuen gattungsübergreifenden künstlerischen Darstellungsformen beeinflusst Einzingers Schreiben seit seiner ersten Veröffentlichung in den 70ger Jahren. Das systematische Aufbrechen von Wahrnehmungskonventionen soll neues Sehen und Erleben möglich machen. Lyrik wird zum bewusstseinserweiternden Mittel, Gedichte Stoff für multisensorische Wahrnehmungstrips.

Entscheidend für den Prozess der Bewusstseinsgenerierung und -erweiterung ist der Akt des Beschreibens selbst. "Einiges von dem, was kurz festgehalten wurde mit dem weichen Naturbleistift aus dem winzigen Zeitschriftenladen neben dem Busparkplatz" lautet ein sprechender Titel aus "Ein Messer aus Odessa". Mit dem Aufzeichnen wird der Bewusstseinsstrom proaktiv. Denn erst im Akt des Bezeichnens und Beschreibens wird eine Auswahl aus dem Chaos der Wirklichkeitssegmente getroffen. Die Chronologie beim Notieren schafft Kontinuität. Der Ablauf entscheidet über die Wahrnehmungsfolge, die Dynamik der Sätze über den Rhythmus des Sehens, die Schnitte und Schwenks des Kopfkinos. Der Schreibvorgang ist Motor einer laufenden Modulation des Wahrnehmungsprozesses. Das Schreiben selbst verändert die Qualität des Sehens.

Einzinger lesen heißt, die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren. In seiner Poesie aus den Augenwinkeln streift er mit sanftem Blick durch die Welt, die an den Rändern der Aufmerksamkeit liegt. Wie ein Vergrößerungsglas lenken seine Gedichte dabei den Blick auf das Schattendasein der kleinen Dinge, das halb Vergessene oder nur kurz Angedachte im Nebenbei der Tage. Wer den Sound der Einzinger-Gedichte einmal im Ohr hat, dem bleibt er im Kopf: ein heiter-melancholischer Alltagsblues, der mit geschärften Sinnen durch den Tag trägt.

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