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Die Töchter-Tragödie

Jeffrey Eugenides: Die Selbstmord-Schwestern. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 25 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 13,  25.03.2004, Seite 34 (Leipziger Buchmesse)


TRAUERSPIEL Jeffrey Eugenides' Debütroman ist endlich wieder auf Deutsch erhältlich

Autor Jeffrey Eugenides zog durch seinen mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman „Middlesex“ im letzten Jahr die verstärkte Aufmerksamkeit auf sich. Auf der Suche nach weiteren Veröffentlichungen findet man sehr selten seinen 1993 publizierten Debütroman „Die Selbstmord-Schwestern“, der vor allem aufgrund der Verfilmung durch Sofia Coppola im Jahr 2000 („The Virgin Suicides“) bekannt wurde. Der in Deutschland vergriffene Roman ist jetzt in einer Neuauflage bei Rowohlt erschienen.

 

Der Titel nimmt die Handlung vorweg: Die fünf pubertierenden Töchter der Familie Lisbon begehen innerhalb eines Jahres Selbstmord. Den Beginn macht Cecilia. Zur Schlammfliegenzeit im Juni stürzt sie sich aus ihrem Zimmer auf den Gartenzaun. Durch die Tragödie scheinbar paralysiert, verbarrikadieren sich die Lisbons in ihrem Haus, das kontinuierlich verfällt. Die Töchter werden von den Eltern ein Jahr lang regelrecht kaserniert, sie verwahrlosen zusehends, bis Lux, Bonnie, Mary und Therese – gerade, als sie scheinbar die Flucht planen – kollektiv Selbstmord begehen. Man findet sie: erhängt, mit Schlaftabletten vergiftet, den Kopf im Gasofen und bei laufendem Motor in der Garage.

 

Ort und Zeit der Tragödie sind nur ungenau zu bestimmen, lassen jedoch auf die dumpfe, spießbürgerliche Szenerie einer amerikanischen Vorstadt in den Siebzigern schließen. Aber man merkt bald – insbesondere an dem sonderbar distanzierten Erzählduktus –, dass es hier nicht um die konkrete Handlung, ein besonderes Zeitgeschehen oder einen spezifischen Ort geht. Auch die zahlreichen Symbolismen wie die sterbenden Ulmen, die Plage der Eintagsfliegen, der modernde See, das überbordende Laub, der systematische Verfall des Lisbon-Hauses und die Kassandra-Rolle der greisen griechischen Mrs. Karafilis weisen darauf hin. Nicht umsonst greift der Roman den jahrhundertealten Topos „Der Tod und das Mädchen“ und die damit verbundenen Leitmotive unerfüllter Leidenschaft und der Vergänglichkeit von Schönheit und Jugend auf. In endlosen Wiederholungen und Variationen umkreist der Roman das zentrale Thema der Zeit, deren Regeln mit dem Tod Cecilias plötzlich aufgehoben scheinen. Der suggestive Erzählstrom ruft Schwellenmomente des Bewusstseins zwischen Schlafen und Wachen und deren spezifisch veränderte Zeitwahrnehmung hervor: Einerseits erscheint der Jahreszyklus wie im Zeitraffer zu rasen, andererseits wirken die zähflüssigen Stunden des Wartens auf die unvermeidlichen Tode endlos.

 

Erzählt wird aus dem Blickwinkel und durch die begehrlichen Augen der Nachbarsjungen, die mit voyeuristischer Faszination und lustvoller Angst den langsamen Verfall der übernatürlich schönen Mädchen beobachten und später in Rückblenden als vierzigjährige Männer erinnern. Der kollektive Blick manifestiert sich sprachlich in einem chorischen Erzählduktus, in dem ein fernes Echo der griechischen Tragödie mitschwingt. Wie ein tragischer Chor fungiert der Kollektiv­erzähler gleichzeitig als Schilderer, Deuter des Geschehens und Mitspieler. Letztendlich ist die Handlung vielleicht sogar eine Vision der Beobachter, die sie aus sich erzeugen. Dazu passt, dass viele Details nur der Vorstellung der Jungen entspringen. Sie stellen sich die Mädchen in intimsten Situationen vor und projizieren ihre sexuellen Begierden auf sie. So imaginieren sie zum Beispiel die Angebeteten bei ihrer Periode mit Tampons im Bad.

 

Die mythisch überhöhten Schwestern und die quasi als Reliquien aufbewahrten Erinnerungsstücke an sie – BHs, Kassenbons, Schulaufgaben, Kosmetika und Fotos – dienen den Jungen letztlich lediglich als Anregung für ihre eigenen Phantasien. Laut Nietzsche gilt die dramatische Funktion des Tragödienchors als ein Mittel, „sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre“. Gleichsam unter einer Zeitglocke konserviert, sehen die Jungen im Sterben der Lisbon-Schwestern auch ihr eigenes Schicksal, ihre unerfüllten Begierden, die nicht gelebten Leidenschaften, ihr eigenes kontinuierliches Altern in der Ereignislosigkeit ihres kleinen, beschränkten Vorstadtlebens und ihre Unfähigkeit zur Flucht.

 

Eugenides fängt mit seinem suggestiven, gleichzeitig modernen und antiken Klagegesang die alte Frage nach Sinn und Vergänglichkeit in einem ganz neuen, charakteristischen Erzählstil ein. „Ich habe mir überlegt, wenn ich etwas Neues und Originelles schaffen will, dann . . . durch die Verbindung von postmodernen und altmodischen Elementen in einem Prozess der Hybridisierung.“ Eine gewagte erzählerische Gratwanderung für einen Debütroman, der manchmal befremdet, manchmal fasziniert, und in seiner sonderbaren Erzählweise bestimmt nicht jedermanns Geschmack ist. In jedem Fall aber ein ganz neuer eigenwilliger Versuch des „hybriden Erzählens“, dessen literarischem Anspruch man Respekt zollen muss.

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