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al-Mala’ika - oder der Engel der Unentscheidbarkeit

Leopold Federmair: Ein Fisch geht an Land. Otto Müller 2006. 172 Seiten.

Rezension 2006 in Literatur und Kritik

 

„Nein, er sei zu Besuch sagte Kave und dann seinen Namen: Kave.“ Eines Tages sei er einfach dagewesen, so die Romanfiguren von Leopold Federmairs „Ein Fisch geht an Land“. Ein Gast mit der Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, sei er. Ein Anachoret. Ein blasser, dünner Vegetarier mit dem schlaksigen nachlässigen Gang eines Menschen, für dessen Existenz keine Notwendigkeit besteht. Staatenlos, ohne Pass und ohne Wohnsitz, nistet er sich in der Wohngemeinschaft ein. Nur ein Zwischenaufenthalt. Aber allein durch seine pure Anwesenheit verändert er alles und jeden. Ob Krankenschwester Evelyn und ihre Tochter Rigoberta, die Journalistin Jasmin, die eine Scheinehe mit Mustafa führt, den Computerfreak Konrad oder die Sprachlehrerin Rosa. Die Begegnung mit Kave ist für jeden einzelnen von ihnen etwas Einschneidendes.

 

Eigentlich, stellt Rosa fest, tat er nichts anderes, als sich der vergessenen Dinge anzunehmen. Er erweckte die entschlafenen Dinge zum Leben, weckte die Neugier der Dinge, bis sie zu sprechen begannen. Dabei sah er scheinbar einfach nur dabei zu, wie alles ablief. In Wahrheit aber habe er alles gesteuert, inszeniert wie ein triadisches Ballett, so Mustafa. Nach und nach stellen die Bewohner der Wohngemeinschaft fest, dass Kave die Wirklichkeit ausgetauscht und ihre Vergangenheit verändert hat. In wechselnden inneren Monologen schildern sie, was in ihnen vorgeht. Denn in allen Figuren löst Kave etwas anderes aus.

 

Für jeden Mitbewohner allerdings wirkt allein seine Gegenwart wie ein Spiegel. Ein Hohlspiegel, der die Lichtstrahlen seines Gegenübers auffängt und gebündelt reflektiert. Daher spricht einiges dafür, den Namen „Kave“ als Verkürzung von „konkav“ zu lesen. Kave als menschliches Spiegelbild, als emotionaler Hohlraum, in dem sich das Gewicht der Sehnsüchte der anderen sammelt? Jedenfalls ist Kave nicht nur für Schwester Evelyn ein mit ihrer Stimme sprechendes „Echo von dem, was in ihrem Kopf herumspukte“. Auch Mustafa ist sich so „sicher, daß ich er war, der Erwartete nämlich“, dass er sich bei einer Verabredung Kaves mit Jasmin statt seiner in ihre Arme wirft. Rosa ist sogar überzeugt: „Ich bin einmal Kave gewesen, er ist ich gewesen. Irgendein Gott hat uns bei seinen Genesis-Spielen vertauscht.“ Schließlich stellt sie fest: „Wir waren unsere Schnittmenge.“ Ein ähnliches Verschmelzungserlebnis hat Konrad, als er vor seinem Monitor sitzt mit „Kave auf meinem Schoß, und wir drehten uns um die gemeinsame Achse.“

 

In jedem von ihnen scheint Kave etwas zu beschleunigen, zu forcieren. Er fordert die Personen heraus – und zwar durch das, was er nicht ist, durch die Leere, die er schafft. Damit katalysiert er einen individuellen Veränderungsprozess, der zu neuen Einsichten führt. Ein Effekt ähnlich dem, wenn sich die Speichen eines Rads sehr schnell drehen. Dann ist es so, als stünden die Speichen still, und man sieht, was man zuvor gesehen hat, „aber anders, nämlich wie zum ersten oder letzten Mal“.

 

Kave verschärft dabei auch und gerade ihre inneren Widersprüche. Bei jedem nimmt er die Rolle des je eigenen persönlichen Dämons ein. Schon lange hat Krankenschwester Evelyn die Perspektive der Sterbenden eingenommen, die sie pflegt. Kave bestärkt sie in ihrem Drang, ihr angesichts des nahen Todes sinnloses Leiden zu verkürzen. Wie Schwester Lina leidet jeder der Mitbewohner unter seinen individuellen Widersprüchen. Jasmin, für die als Journalistin nur noch die Gegenwart zählt, erkennt, dass sie bereits alle Züge versäumt habe und ihr Leben schon lange ohne sie läuft. Rosa zerbricht unter ihren ungelebten Träumen. Und Konrad flüchtet als Ersatz für die enttäuschte Verwirklichung in die virtuelle Welt seiner Computerspiele. Eine selbstkonstruierte Scheinwirklichkeit und schizophren dissoziierende Rollenmodelle, in denen er vor sich selbst verschwindet. Und Mustafa, der als Soldat vor dem Krieg in seinem Land geflohen ist, beginnt zu ahnen: Der eigentliche Kampf findet im Inneren statt. Und Freiheit kann immer nur eine vorläufige sein, denn: „Wir hängen von uns ab und wissen es nicht.“

 

Aber was ist es, wodurch Kave diese Prozesse in Gang setzt? Er hat die Kraft eines seltsamen Propheten, eines eigenartigen Engels. Allerdings ein Engel in der Bedeutung der im Roman erwähnten arabischen „al-Mala’ika“, der gewaltigen und mächtigen unsichtbaren Lichtgestalten des Islam. Faszinierend und bedrohlich zugleich sind sie. Wie Kave, der oft ganz aus Licht erscheint und plötzlich Gedichte oder abgerissene Sätze sagt mit einer Eindringlichkeit, „als müßte er diesem wunderschön aufgehenden Tag eine Botschaft von einem ganz anderen Zeitraum übermitteln, und dies über einen vielleicht zwar kurzen, aber unvorstellbaren Abstand hinweg.“ Nicht zufällig wird er auch mit einem klassischen Attribut der Engel beschrieben: dem in der erhobenen Hand über den Mitwohnern schwebenden Feuerschwert. Am Schluss präsentiert er sich gar als halb schwebender Puppenkave, der in gesalbtem Tonfall von der Zwecklosigkeit der Geschichte redet. Aber Vorsicht: Denn Kave scheint eines jener als „al-Mala’ika“ bezeichneten Wesen zu sein, die genau das Gegenteil von dem tun, „was sie sich wünschen, um das Gewünschte zu erweichen.“

 

Schließlich verschwindet Kave so plötzlich, wie er gekommen ist, im Nichts. Setzt sich in seinen R4, fährt damit in den Kanal und versinkt vor den Augen von Rigoberta im Wasser. Oder hat sich Rigo das in ihrer mädchenhaften Fantasie nur ausgedacht?

 

Der mystische Surrealismus des Romans lässt keine abschließende eindimensionale Deutung zu. Anscheinend geht es dem Autor bei den vielen existenziellen Themen auch gar nicht um Antworten. Federmair macht „Das Prinzip Unsicherheit“, so der Titel eines seiner Essays, zum literarischen Programm. Die systematische Untentscheidbarkeit hat, so der Autor in dem poetologischen Text, das „Fremdwerden des Vertrauten und das Vertrautwerden des Fremden“ zum Ziel. Auf den Leser wirkt das oft genug verstörend, nicht selten auch hermetisch. Tatsächlich will Federmair den Leser mit dem Hybriden, dem Nichtzuordenbaren fordern und herausfordern. Der Leser soll über das Ungeheuerste, nämlich sich selbst, staunen lernen.

 

Die Methode der Indifferenz findet ihr sinnliches Pendant in der poetischen Sprache, der, so der Autor, „Ursprache der Menschheit“. Als poetischer Wortgeologe tastet Federmair die Oberflächen der Sprach- und Wortfelder ab wie jahrhundertealte Gesteinsformationen. Immer wieder finden sich kostbare Einschlüsse, ein Hauch glitzernder Poesie, aphoristische Sinnsprüche, die im surrealen Kontext wieder ironisiert werden. Magische Einsprengsel, Beschwörungsformeln gleich, die wie mystische Zaubersprüche zwischen verrückten Kinderreimen und lakonischen Haikus oszillieren. Bezeichnenderweise hat ein japanischer Dreizeiler dem Roman auch seinen Titel gegeben. Karge Verse eines sich als sprachkrank bezeichnenden Autors, den die Literatur vor dem Verstummen rettet. Denn, so charakterisiert Federmair sich selbst als Autor: „Ich bin der Hüter des Je-ne-sai-quoi und des Presque-rien. Ich bin der Verräter des Unbestimmbaren und des Beinahe-Nichts.“

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