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Webmuster der Geschichte

Dieter Forte: "Tetralogie der Erinnerung". Taschenbuchausgabe. Vier Bände in Kassette. Fischer Taschenbuchverlage 2010. 1008 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 23, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 10. Juni 2010, S. 21.

 

Familiensaga. Der Düsseldorfer Autor Dieter Forte schuf mit der "Tetralogie der Erinnerung" sein Opus Magnum. Zum 75. Geburtstag erscheint das Meisterwerk als vierbändige Buchkassette.

 

„Da wartet man nun auf den Tod.“ Mit diesem Satz beginnt der Alte jede seiner Geschichten. Der Refrain seiner Lebenserinnerungen gibt dem Roman, einen Reigen aus Nihilismus und Galgenhumor, seinen Rhythmus vor. Fast bewegungslos liegen die Lungenkranken in ihren Zimmern mit unveränderlichem Blick über Deich und Meer auf den teilnahmslosen Himmel über der Nordseeinsel. Der Tod liegt nur ein Bett weit entfernt; lediglich eine Frage der Zeit, wann man selbst der nächste ist. Für den jungen Bettnachbarn des Alten liegt dieser Ort bereits „auf der anderen Seite der Welt.“ Er ist der stille Zuhörer und zentrale Beobachter des Romans mit dem Titel „Auf der anderen Seite der Welt.“, dem vierten Teil der Tetralogie der Erinnerung von Dieter Forte. Um zu überleben, beginnt der junge Mann, auf der Rückseite der Fieberkurve die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Es ist der Anfang einer langen Erzählung, deren Ursprung weit vor der eigenen Erinnerung liegt.

Sie beginnt mit einer Genealogie der  Familien Fontana und Lukacz im ersten Roman von Dieter Fortes Tetralogie der Erinnerung mit dem Titel „Das Muster“. Friedrich, der Vater des Jungen, entstammt der uralten Seidenweberfamilie Fontana aus Lucca. Grundlage der Familienerinnerung ist das Musterbuch aus dem 12. Jahrhundert, in dem die Fontanas über Flucht und Vertreibung hinweg ihre Webmuster bis in die Gegenwart gerettet haben. Ein Teil der Familie hat sich in Düsseldorf niedergelassen. Spross dieses Zweigs ist der Freigeist und skurrile Privatgelehrte Gustav Fontana, der Großvater des Jungen. Die Mutter des Jungen, Maria, stammt aus einer polnischen Arbeiterfamilie. Ihre Vorfahren waren Siedler aus Böhmen, meist kleine Bauern im Bruch. Der Großvater ging als Bergarbeiter nach Dabrowa, Marias Vater wurde Hauer auf Königshütte. Er fällt im ersten Weltkrieg. Nach dem Tod der Mutter zieht Maria zur Tante nach Düsseldorf. Dort lernt sie Friedrich Fontana kennen. Sie heiraten. Die Lebenslinien der Familien werden im Text im Wechsel kleiner Episoden erzählt und damit buchstäblich zu einem neuen schwarz-weißen Muster verwebt. Das neue Gewebe erweist sich als ein überzeitliches Muster der in ihrer ewig wiederholten Wiederholung immergleichen Weltgeschichte. Die individuellen Familienmitglieder nehmen darin die Rollen mythischer Figuren ein.

Die Kinder von Maria und Friedrich werden im Nazi-Deutschland geboren. Davon erzählt der Roman „Tagundnachtgleiche“, der zweite Teil der Tetralogie Dieter Fortes. Im bald hereinbrechenden Krieg begreift der Junge schnell, Überleben ist nur im ständigen Erinnern und andauernden Erzählen möglich. Aber er fragt sich: War das Erzählen lediglich die menschliche Interpretation des großen, unerkennbaren, hinter allem stehenden Musters oder waren die Geschichten selber das Muster? Sicher ist, während des Erzählens ist noch kein Tod und noch nicht alles vergeblich, solange es eine Stimme erzählte. Dabei ist es vor allen Dingen die Stimme der Mutter, die ihn durch diesen langen tödlichen Krieg trägt. Denn die alliierten Luftangriffe verwandeln Düsseldorf  in ein Inferno. Sie werden evakuiert. Ihre Odyssee quer durch Deutschland endet am Heiligabend 1945 in den Trümmern ihrer Heimatstadt. Wie durch ein Wunder überleben sie alle.

Der Krieg ist aus. Der Krieg geht weiter. Die Familie kämpft ums Überleben – auf der Suche nach Brot, Wasser und den lebenswichtigen Medikamenten für den schwer lungenkranken Jungen, der nur noch liegend aus einem Mauerloch ihrer Wohnruine in die Steinwüste blicken kann. „In der Erinnerung“ heißt der dritte Teil von Dieter Fortes Tetralogie über die Stunde Null. In dieser heillosen Situation entwickelt der Junge sein eigenes Überlebensmuster. Durch gespiegeltes Fensterglas, über zerbrochene Spiegelsplitter sieht er die reflektierten Bilder der zerstörten Außenwelt. In diesem indirekten Blick entdeckt er das erlösende Muster seiner Wahrnehmung der zerstörten Welt. Ein Muster, das ihn vor dem Tod rettet; auch später im Lungensanatorium, wo er auf der Rückseite der Fieberkurve zu schreiben beginnt.

Der indirekte Blick bildet auch die Basis von Dieter Fortes Erzählprinzip. Der Autor bezieht sich dabei auf  Cézanne, der in seinen Bildern aus Farbflecken, in denen jede Stelle von allen weiß, Nähe und Ferne auf der Leinwand eins werden lässt. Wie der Maler die Perspektive aufhob, hebt Forte in seiner Tetralogie die Zeit auf und verbindet dadurch Vergangenheit und Gegenwart zu einem Bild. Fortes Tetralogie ist eine atemberaubende Sinfonie über Leben und Tod – als offene fragmentarische Komposition aus vielen kleinen Geschichten über Menschen und getragenen, elegischen Passagen über Werden und Vergehen. Beispiellos sind die Worte, die Dieter Forte für die selbst erlebten Bombardierungen findet. Sprachbilder, die keiner, der sie gelesen hat, vergessen wird.

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