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In welchen Mulden sitzt das Glück?

Arno Geiger: Alles über Sally. Hanser 2010. 368 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 6, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 11. Februar 2010, S. 21.
Besprechung: Belletristik (794 Wörter)

 

In welchen Mulden des Lebens sitzt das Glück? In welchen Falten der Seele verbirgt sich das Ich? Und in welchen Untiefen der Zeit nistet die Liebe? Jedenfalls nicht da, wo wir sie normalerweise suchen: in den erhabenen Momenten großer Gefühle. Viel eher hocken sie in den kleinen Ritzen unscheinbarer Tage – dort, wo dieser Alltags-Mörtel, der „unsere Seele im Innersten zusammenhält“, besonders leicht zu übersehen ist.

 

Auch Sally sieht im Moment nur noch die graue Oberflächenstruktur ihres Lebens. Die für Sallys Fifty-something-Generation typische Bürgerlichkeit erscheint ihr von trostloser Vorhersehbarkeit: die kräftezehrende Arbeit als Lehrerin, die von drei Kindern absorbierte knappe eigene Zeit, das von Jahr zu Jahr enger erscheinende Haus, das gleichsam von innen zuwächst, und schließlich ihre fünfundzwanzig Ehejahre mit Alfred. Der macht es ihr nicht immer leicht: mit seiner seelischen Behäbigkeit, dem Parallel-Leben in seinen Tagebüchern, die er vierundzwanzig Stunden am Tag mit Echtzeit-Notizen füttert, und dem Tick, seine Stützstrümpfe gar nicht mehr auszuziehen. Ganz „in seinem schneckenhaften Element, versunken in die Vermessung seiner kleinen Erfolge und Niederlagen“ scheint er gar nicht zu bemerken, wie Sally sich von ihm entfernt. Das Chaos nach dem Einbruch im Haus wird zum Sinnbild ihres emotionalen Desasters und Anlass einer gründlichen Seelen-Inventur. Alfred gerät total aus dem Gleichgewicht. Und die mit ihren zweiundfünfzig Jahren immer noch attraktive, liebeshungrige Sally beginnt ein erotisches Abenteuer – ausgerechnet mit Erik, Alfreds Freund und Ehemann von Sallys Freundin Nadja. Aber das Kreuz-Quartett der „Wahlverwandtschaften“ geht nicht auf. Erik lässt Sally und Nadja für eine junge Russin sitzen. „Die Liebe in den Zeiten der Stützstrümpfe“ ist eben eine verzwickte Sache.

 

Und Alfred? Der reiht die Weißt-Du-noch-Momente seines Lebens mit Sally wie Liebesperlen aneinander und wartet darauf, dass ihre Liebe zu ihm zurückkehrt. Wie war das am Anfang? Damals in Ägypten, wo sich die junge Studentin und der promovierende Ethnologe kennenlernten? In Kairo war die Zukunft für Sally plötzlich unvorhersehbar – in der lärmenden Stadt, bei nächtlichen Ausflügen in die Wüste oder in Alfreds Zimmer mit Blick auf den Nil und direkter Verbindung vom Bad zur darunter liegenden Wohnung, wo das Duschwasser nach unten und die Gespräche nach oben durchsickerten. Später dann: Alfreds Stelle am Wiener Museum, das Haus, die Töchter Alice und Emma. Alfred erinnert sich: als sie einen Maurer baten, für die Schienen der Modelleisenbahn einen Tunnel zum Esszimmer durchzubrechen. Oder: wie Sally, mit Gustav schwanger, auf einer Familienwanderung nackt im Bergsee baden wollte und dann verfolgt wurde von einer Kuh, die ihren weißen Po für einen Salzstein hielt, und danach das Gewitter. All diese kleinen Mosaik-Steinchen der Liebe, die in unserer Seele ihre individuellen Glücks-Spuren ziehen. Alfreds Tagebuch ist sein persönlicher Tribut an diese kostbaren Augenblicke. Er sammelt, beschreibt und hält fest. Denn er weiß: Liebe ist aktive Erinnerungsarbeit. Alfred ist ein Glücksmoment-Sammler und Reaktionär der Liebe. Damit steht er in der Tradition des von ihm geliebten Tagebuchschreibers Samuel Pepy, dem britischen Chronisten der Restaurationsepoche unter Karl II von England.

 

Mit dem Nachdenken über das Schreiben von Tagebüchern verweist Arno Geiger auch auf seine eigene Autorschaft. Schließlich wird er ja mit seinem Buch selbst zum Chronisten der Liebe. Augenzwinkernd stellt er sich in die Reihe der unverbesserlichen Glücks-Nugget-Sucher und harmlosen Liebes-Fossile. Doch die Selbstironie täuscht: Nichts ist schwerer zu beschreiben als das Glück und nichts schwerer festzuhalten als die Liebe. Arno Geiger gelingt das in „Alles über Sally“ mit beiläufiger Leichtigkeit. Dabei kippt der Roman nie in den Kitsch. Die Liebe bleibt an lustvolle Sinnlichkeit gebunden. Und statt naiver Glückseligkeit beschreibt Geiger aus Schmerz destillierte Glücksmomente, die aus dem melancholischen Wissen um den jederzeit möglichen Verlust erwachsen. Eine Grundstimmung, die nie ohne Humor daherkommt. In seiner Reflexion über die Bedeutung der maria-theresianischen Kanzleiordnung oder in Szenen wie dem häuslichen Tunnelbau beweist der Autor sein humoreskes Talent. Die Sprache ist nur auf den ersten Blick einfach. Der Autor jongliert mit verschiedensten Erzähltechniken: Geiger blendet Rückblicke fließend in die erzählte Gegenwart, wechselt die Erzähl-Haltung übergangslos vom Dialog zur Ich-Perspektive und treibt mit sprachlichen Tempo- und Rhythmusänderungen unmerklich die Dynamik der Handlung voran. Alfreds innerer Monolog im zehnten und vorletzten Kapitel stellt den dramaturgischen und formalen Höhepunkt des Buches dar. Von dieser Fallhöhe aus scheint es, als habe der Autor lange Anlauf nehmen müssen, um sich dann meterhoch über die Hürde zu schwingen. Doch allein für diese Seiten würde es sich lohnen, „Alles über Sally“ zu lesen.

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