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Wer kennt schon Österreich?

Arno Geiger: Es geht uns gut. Carl Hanser Verlag 2005. 389 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 40,  06.10.2005, Seite 21

 

FAMILIENEPOS  Arno Geigers neuer Roman ist für den Deutschen Bücherpreis nominiert. Zu Recht!

Haben Sie schon mal versucht, gezielt an den Ereignissen vorbeizuschauen? Das Beiseiteschauen erlaubt oft ganz neue Perspektiven. Ein Effekt, den der österreichische Autor Arno Geiger in seinem neuen Roman „Es geht uns gut“ zum Erzählprinzip macht. Im Fokus seiner Geschichte stehen die alltäglichsten Begebenheiten, all diese, so der Autor, „Kleinigkeiten, die so sehr ins Gewicht fallen“.

 

Ein gewagtes Projekt für eine Erzählung, die sich von 1938 bis 2001 erstreckt: Auf neun einzelne Tage verteilt, entwickelt Geiger einen österreichischen Gesellschaftsroman, der auch Familiengeschichte und Bildungsroman mit Enkel Philipp ist. Dessen Geschichte und die Großmutter Almas bilden den Rahmen einer komplexen Erzählkonstruktion mit wechselnden Hauptfiguren.

 

Am Anfang steht das Ende. Österreich 2001. Vor dem Terroranschlag am 11. September in New York. Der Blick geht vorbei. Der 36-jährige erfolg- und orientierungslose Schriftsteller Philipp sieht der Renovierung der von Großmutter Alma Sterk geerbten, heruntergekommenen Familienvilla zu. Freundin Johanna hat die Sanierung veranlasst. Die zweite Rahmenhandlung spielt 1982 und 1989 – kurz vor der deutschen Wiedervereinigung. Alma Sterk erzählt sich über den Verfall ihres Manns Richard ins eigene Vergessen. Und stirbt im Schmerz über den Tod der Kinder Otto und Ingrid vereinsamt. Schnitt. Rückblende. Zurück zum Anfang. August 1938 – wenige Monate nach Österreichs Anschluss und vor Kriegsbeginn.

 

Die gutbürgerliche Familienidylle der Sterks in ihrer Hietzinger Villa wird nur durch eine Affäre Richards und einen politisch nicht konformen Prozess gegen einen Nazisympathisanten getrübt. Zeitsprung. 1945, wenige Tage vor Kriegsende. Peter Erlach wird als Hitlerjunge im Kampf gegen die in Wien einmarschierenden Alliierten verwundet. Er flieht auf ein Donauschiff und in die Erinnerung. 12. Mai 1955 – drei Tage vor Unterzeichnung des Staatsvertrages. Minister Dr. Richard Sterk zeigt nicht das geringste Verständnis für die Liebe der Studentin zum wirtschaftlich erfolglosen Träumer Peter.

 

1962. Trotz wirtschaftlichen Aufschwungs sind weder Richards politische noch private Träume in Erfüllung gegangen. Alma und er haben sich entfremdet, und seit dem Rauswurf ist die Beziehung zu Tochter Ingrid und ihrer jungen Familie gestört. Die siebziger Jahre. Silvester. Ingrid resümiert ihre unglückliche Ehe mit Peter, dem Erfinder des erfolglosen Spiels „Wer kennt Österreich?“. Unberührt von der 68er Bewegung lässt er sie mit ihrer Dreifachbelastung als Ärztin, Hausfrau und Mutter allein. Schnitt. Überblendung: 1978. Vier Jahre nach Ingrids Tod haben Peter, Sissi und Philipp den Verlust der Mutter noch nicht verkraftet.

Fotos, Bilder, Momentaufnahmen. Aus Details entwickeln sich Geschichten. Wiederholungen bilden Muster. Wie das Muster der kollektiven Verdrängung. Ein österreichisches Paradigma. In der Spiegelbildlichkeit von Privatem und Historischem wird es von Arno Geiger in seinem Roman vorgeführt. Zum Beispiel in Almas Versuch, den symptomatisch an Gedächtnisverlust leidenden greisen Richard an die spezifisch österreichische Zeitrechnung zu erinnern: Historische Zäsuren werden hier einfach ignoriert. Richard hatte sich im Krieg eben ein paar Jahre geduckt.

 

Auch Schwiegersohn Peter entzieht sich der Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit. Und Enkel Philipp verweigert sich schließlich total seinem familiären Erbe. Und die Frauen? Sie sind vor allem Betroffene. Und sie begreifen die österreichische Heimat- und Familienidylle als kollektive gesellschaftliche Lüge. Blumig untermalt durch Filmstreifen wie „Der Hofrat Geiger“ – eines der Leitmotive des Romans. Auch hier: bewahrende Kontinuität im unaufhörlichen Verfall. Wie in der auseinander treibenden Familie.

 

Statt Gemeinsamkeiten dominieren Wiederholungen. Nur das Sterben durchbricht die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Am Ende steht der Tod von Alma, nicht zufällig kurz vor Öffnung der Berliner Mauer datiert. Vielleicht beginnt mit Hauserben Philipp etwas Neues? Aber der erfolglose Schriftsteller fühlt sich außerstande, als Familienchronist die „Dokumentation einer untergegangenen Kultur“ zu leisten. Selbst zum Leben reicht kaum der Mut. Er möchte dort bleiben, wo er ist: auf der Vortreppe. Das ist sein Platz. Aber die Einsicht „Auch Nichtstun kann die Dinge zum Eskalieren bringen“ lässt den gleichgültigen Enkel zuletzt doch noch aktiv werden. Immerhin: In einem ansatzlosen Anfall von Aktivismus erklimmt Philipp wagemutig den erneuerten Dachstuhl. Und entschließt sich, mit seinen Bauarbeitern in die Ukraine zu reisen. Nicht, ohne sich vorher augenzwinkernd von den Lesern zu verabschieden. Als der große Angeber, der, so Philipp, „alles erfindet: das Wetter, die Liebe, die Tauben auf dem Dach, seine Großeltern, Eltern und seine Kindheit“.

 

Rittlings auf dem Dachfirst sitzend, macht er sich auf, als Baron von Münchhausen in die Welt hinauszureiten. In eine neue Zukunft: fort von Österreich, der Familie und seinem Scheitern. Auch wenn ihn die Vergangenheit verfolgt: Diesmal wird er schneller sein.

 

Mit „Es geht uns gut“ ist Arno Geiger ein Roman über das gelungen, was unser Leben eigentlich ausmacht: eben all jene „Kleinigkeiten, die so sehr ins Gewicht fallen“. Gerade durch Geigers Vorliebe für betont handlungsarme Passagen und sein systematisches Vorbeischauen an Großereignissen. Er bearbeitet die oberflächliche Ereignislosigkeit mit der sanften Ausdauer einer zurückgenommenen und eindringlichen Sprache. So lange, bis die Figuren, wie von selbst zu leben beginnen.

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