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Frischer Wind

Thomas Geiger (Hrsg.): Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart. dtv premium 2009. 360 Seiten, 14,90 Euro
Sendung vom 02.11.2009 im Deutschlandfunk, Moderation Hubert Winkels

http://www.deutschlandfunk.de/frischer-wind.700.de.html?dram:article_id=84291
fileadmin/dokumente/Audios/abraham.mp3Beitrag hören (Zitate gesprochen von Bettina Scholmann und Franz Laake vom DLF-Sprecherensemble)

 

"Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart" heißt eine bei dtv premium erschienene Gedichtanthologie. Herausgeber Thomas Geiger möchte mit dem Band vor allem eines schaffen: einen repräsentativen Überblick über die deutsche Gegenwartslyrik.


Das Gedicht sei "mehr als Quitte und Qualle." Davon ist Monika Rinck überzeugt. Sie ist eine von 24 Lyrikern und Lyrikerinnen, die Herausgeber Thomas Geiger in seiner neuen Anthologie "Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart" versammelt. Zeitgenössische deutsche Autoren werden hier mit jeweils circa zehn Gedichten präsentiert. Die ausgewählten Dichter vertreten keine einheitliche Strömung. Die 360 Seiten umfassende Sammlung soll die große Bandbreite der in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen deutschen Gegenwartslyrik darstellen, so Geiger in seinem kurzen Nachwort. Auffällig ist das durchweg starke Traditionsbewusstsein der jungen Schriftsteller.

Sie beherrschen das lyrische Handwerkszeug und ihre Texte zeugen von hohem Reflexionsgrad. Die überwiegend in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geborenen Poeten beziehen sich auf Susan Sontag oder Heiner Müller und gehen zurück bis Shakespeare und Gryphius. Kurzporträts am Ende des Bandes stellen die 15 Autoren und neun Autorinnen vor - unter ihnen Namen wie Marcel Beyer, Marion Poschmann, Jan Wagner oder Uljana Wolf, die zweitjüngste Lyrikerin der Anthologie, die gleich mit ihrem Debüt den Peter-Huchel-Preis 2006 gewann. Hören Sie jetzt das titelgebende Gedicht aus ihrem Erstling "kochanie ich habe brot gekauft":

kochanie ich habe brot gekauft

"so bildet die fremde
gespräche aus

ich erkenne sie
mit warmem rücken

mit geschlossenen augen
in einem doppelbett

noch immer ohne muster
ohne richtige antwort

nur die gewöhnung
an berg und tal

wie sich was
zu hälften fügt

auf einer übersetzbaren
matratze"


Leise Zeilen voll sanfter poetischer Subversion wie die von Uljana Wolf stehen in "Laute Verse" gleichberechtigt neben den wort- und stimmgewaltigen Gedichten von Thomas Kling, dem mit Jahrgang 1957 ältesten Autor des Bandes. Sein Einfluss auf die jüngeren deutschen Lyriker ist groß. Das zeigen auch die zahlreichen Verweise der Kollegen auf den großen Vortragskünstler in dieser Sammlung. "Poetik" heißt das erste der für diese Anthologie ausgewählten Gedichte des schon 2005 verstorbenen Kling. Hier ein Ausschnitt:

"Disiectio membrorum: die schamanistische Gliederverstreuung.
Eben auch: Die Wortauswerfung.
Sowie: die Wortverwerfung.
Die unausgesetzten, immer zu wiederholenden Arbeitsvorgänge: die des
Wortaufklaubens, nicht: Worteklaubens; die des Wortemachens, ja. Bei Be-
darf Anwerfen des Neologismus-Maschinchens.
( ... )
Das unausgesetzte, das naturgemäß vollständige Ausgesetztsein im Schreiben, mit der, und - haargenau - in der Schrift."


"Dichten - Schinden - Gerben" lautet eine weitere Zeile aus diesem Gedicht; "Die Schrift - Die Heilung" ein anderer Vers. Poesie als Handwerk und Fronarbeit oder Dichtung als heilende Handlung? Welches Selbstverständnis haben die jüngeren Kollegen von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit? Thomas Geiger hat alle im Band präsentierten Lyriker gebeten, in einem kurzen Text ein von ihnen selbst ausgewähltes Gedicht zu erläutern. Das Ergebnis: 24 persönliche Einblicke in die Dichterwerkstatt; vielfach eine kleine Poetik im Taschenformat. So vielfältig die individuellen Stile und Schreibweisen, so unterschiedlich die Herangehensweise an die poetologische Selbstauskunft. Die am Anfang zitierte Lyrikerin Monika Rinck zum Beispiel ergänzt die Endfassung ihres Gedichts durch eine "work-in-progress"-Version. In einer Art "Making of" legt sie dann die Zutaten offen, aus denen sie das "fertige Gericht oder Gedicht" in "voller Absicht bis zur Unkenntlichkeit zubereitet habe." Ergebnis ihrer Selbstanalyse:

"die Bestandteile selbst sind nicht wegweisend, aber auch nicht beliebig. Es wäre auch ein ganz anderer Weg denkbar, durch das Gedicht, der mit seinen Zutaten in keiner Verbindung steht. Denn das Gedicht ist mehr als Quitte und Qualle."

Das ist ihr Bild für die Unauflösbarkeit der Frage nach dem Wesen von Gedichten. In einer beinahe mystischen Definition des Gedichts als einer "Leere, die, umgeben von Worten, zu Offenheit wird", sucht Christian Lehnert nach einer Formel für Poesie. Während Nora Bossong in ihrem persönlichen poetologischen Glaubensbekenntnis schlichtweg bekennt:

"Ich glaube, es gibt keine Gedichte. Es gibt sie nur zufällig."

Marcel Beyer schließlich konstatiert nüchtern:

"Gedichte sind, unsentimental betrachtet, immer auch einfach: In Vibration gesetzte Atemluft."

Vom Dichter bleibt also am Ende nicht mehr als ein "Atemwölkchen"? So jedenfalls sieht es Durs Grünbein hier in seiner kleinen Poetik. Hören Sie die letzte Strophe aus Grünbeins "Schädelbasislektion" - eine Einübung in die Sterblichkeit, eine Etüde der Nichtigkeit:

"Unterm Nachtrand hervor
Tauch ich stumm mir entgegen.
In mir rauscht es. Mein Ohr
Geht spazieren im Regen.
Eine Stimme (nicht meine)
Bleibt zurück, monoton.
Dann ein Ruck, Knochen, Steine.
... Schädelbasislektion."


Zehn Gedichte und ein kurzer Text für jeden Lyriker sind nicht viel; und doch genug, um eine Sprachmelodie anklingen zu lassen und ein Thema heraus zu hören. Thomas Geigers Anthologie "Laute Verse" bietet einen guten Überblick über die deutsche Lyrik seit der Wiedervereinigung. Die handlichen Taschen-Poetik-Texte machen den besonderen Charme der Sammlung aus. Der Band vermittelt ein Gespür für die Vielfalt individueller Stimmen innerhalb der gegenwärtigen deutschen Lyrik. Und er öffnet das Ohr auch für zeitgenössische Lyriker, die nicht in diese Sammlung aufgenommen werden konnten. Es ist schön, so viele junge Autoren die poetische Tradition fortschreiben zu sehen. Manchmal wünscht man sich, sie wären gelegentlich etwas respektloser gegenüber ihrem literarischen Erbe und würden in ihre Gedichte ein bisschen mehr von der Welt hineinlassen, in der sie heute leben.

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