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Die Revolution geht weiter

Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag 2012. 506 Seiten.


Kunst ist authentisch, wenn sie das Leben nicht einfacher darstellt, als es in Wirklichkeit ist. Deshalb wirkt eine Erzählung auch nur in dem Maße wahrhaftig, in dem sie die Brüche und Widersprüche der Realität in ihre Geschichten hineinlässt. Genau diese „rebellische Integrität des Künstlers“ gegenüber der Wahrheit macht sein ästhetisches Wagnis subversiv. Und gibt ihm die Legitimation, selbst in Zeiten und an Orten zu schreiben, wo schon ein einziges Wort über Leben und Tod entscheiden kann.


Südafrika während der Apartheid ist so ein Land. Es ist die Heimat der südafrikanischen Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer. Ihr aktueller Roman „Keine Zeit wie diese“ ist ein um größtmögliche Wahrhaftigkeit bemühtes Porträt Südafrikas von Mitte der Neunziger bis ins Jahr 2009. „Keine Zeit wie diese“ beginnt kurz nach den ersten freien Wahlen 1994. Eine Zeitenwende. Nach Aufhebung der Rassentrennung sind vor dem Gesetz alle gleich. Aber mit der neuen Realität der Freiheit beginnt vieles erst kompliziert zu werden. Auch für Steve und Jabulile,

Sie war schwarz, er weiß. Das war alles, was zählte. Alles, was damals Identität ausmachte. Simpel wie die schwarzen Buchstaben auf diesem weißen Papier. In diesen zwei Identitäten verstießen sie gegen das Gesetz. Und kamen damit durch, mehr schlecht als recht. (…) Sie war schwarz; (…) getauftes Mitglied der methodistischen Kirche, in der (…) ihr Vater, Direktor einer schwarzen Knabenschule, Ältester und ihre Mutter Vorsitzende des kirchlichen Damenvereins waren. (…) Er war weiß. Aber auch das ist nicht so definitiv (…). Sein Vater war nichtjüdischer, weltlicher, nominell praktizierender Christ, seine Mutter Jüdin.

Heimlich hatten Jabu und Steve in Swasiland geheiratet. Ihr Vater hatte ihr dort eine Ausbildung zur Lehrerin ermöglicht. Sie ließ sich vom ANC anwerben, der damals führenden illegalen Bewegung gegen die Apartheid. Auch Steve war für den ANC aktiv. In Glengrove Place hatten sie später in Johannesburg einen Ort gefunden, wo ihre illegale Verbindung unauffällig blieb. Dort war auch ihre Tochter Sindiswa zur Welt gekommen und die Zeit des Sich-verstecken-Müssens zu Ende gegangen. Sie sind frei und können sogar ein Häuschen in einem ehemaligen Buren-Vorort mieten. Ihre Nachbarn sind ein buntes Gemisch der neuen Mittelschicht: schwarze und weiße Genossen sowie eine Schwulen-WG, die in einer früheren Kirche wohnt. Aber es ist nicht einfach, die neue bürgerliche Freiheit zu genießen, wenn die tödliche Vergangenheit die Gegenwart nicht loslässt. Nicht einmal beim friedlichen Grillfest.

Peter Mkize (…) wendet mit fachmännischer Hand Kotelettes und Würste auf dem Holzkohlegrill unter den Weinreben; in der anderen Hand ein Bier. Sein Bruder war einer von denen, die gefangen und getötet worden waren; die zerstückelten Leichen wurden auf einem braaivleis, einem Grillfest, von betrunkenen weißen südafrikanischen Soldaten verbrannt und in den Komati geworfen, eine der Grenzen zu Mosambik. (…)
Jetzt ist alles danach.

Aber „danach“ ist immer noch mittendrin. Die Revolution geht weiter. Doch das wird Steve und Jabu Reed erst nach und nach klar. Obwohl sie die Gewinner der neuen Zeit zu sein scheinen; und dass, ohne sich ihrer sozialen Verantwortung zu entziehen. Sohn Gary Elias wird geboren. Steve nimmt eine Stelle am Chemischen Institut der Universität an. Und die als Lehrerin tätige Jabu wechselt nach erfolgreich absolviertem juristischen Fernstudium von der Schule an das Justizzentrum. Aber der postrevolutionäre Alltag hat seine Tücken.
In der Universität haben schwarze und weiße Studenten noch lange nicht die gleichen Ausgangsbedingungen. Zu lange hat das Apartheidsregime der schwarzen Mehrheit den Zugang zur Bildung verweigert. Ihre durchschnittliche Allgemeinbildung ist unzureichend. Die Zahl der Analphabeten ist nach wie vor viel zu hoch. Einige unzufriedene Lehrkräfte machen ihrem Unmut in der Kaffeeecke Luft.

Was habt ihr also vor. –
Im Busch hast du gewusst, was zu tun war.
Er gibt sich die Antwort selbst, in einem neuen geringschätzigen Ton: eine Delegation zusammenstellen. Ja? Es sind doch nicht deine Probleme in den Hörsälen einer Universität, hinter bewachten Toren, Bruder, my Bra. (…) Ihr müsst nicht die Regeln und die Moral des Kampfes an die neue Zeit Frieden-und-Freiheit anpassen.

Die Delegation kommt ohne Ergebnis vom Bildungsministerium zurück. Wieder und wieder werden kleine Fortschritte durch spektakuläre Rückschläge entwertet: So provozieren weiße Studenten einen Skandal, indem sie vor laufender Videokamera eine schwarze Putzkolonne demütigen.
Auch Jabus Kampf für Gerechtigkeit, ihr Glaube an das neue Rechtssystem und ihre politischen Überzeugungen geraten zunehmend in Konflikt miteinander. Die Justiz setzt die Zwangsräumung einer Elendssiedlung von Flüchtlingen aus Simbabwe durch. Prozesse gegen korrupte Politiker der jetzt führenden Regierungspartei ANC werden von den Gerichten verschleppt. Der prominenteste Angeklagte ist der ehemalige ANC-Geheimdienstchef Jacob Zuma. Seine Verfahren wegen Waffengeschäften und sexueller Gewalt werden für Jabu zur persönlichen Zerreißprobe. Denn ihr Vater kennt Zuma aus dessen Amtszeit als Regierungsrat der gemeinsamen Heimat KwaZulu-Natal gut und ist felsenfest von seiner Unschuld überzeugt. Doch Jabu muss vor Gericht miterleben, wie Zuma mit haarsträubenden Argumenten die Vergewaltigung leugnet und die südafrikanische Volkskrankheit AIDS verharmlost. Zuma wird trotz aller Vorwürfe zum Staatspräsidenten gewählt. Jabus Identitätskrise ist fundamental.

Ach, diese verfluchte Litanei, das „bessere Leben“, wie oft muss man damit vor die Toten hintreten, die Genossen, die für das neueste Dienstwagenmodell von Mercedes gestorben sind, für die Herrschaftsvillen als Winter- oder Sommersitz, die Millionenprovisionen aus Waffengeschäften (…). Wer hätte denn in seinen schlimmsten Träumen geahnt, dass man so enden könnte, angewidert, beraubt aller Hoffnungen und Hoffnungsträger, a luta continua.

Der Kampf geht weiter. Das ist jetzt klar. Doch das Schlimmste ist: Ungerechtigkeit und Widersprüche finden nicht nur in der Politik, sondern vor der eigenen Haustür statt – oder sogar im eigenen Garten. 
Familie Reed nimmt Jabus Verwandte Wethu auf. Sie kümmert sich um Kinder und Haushalt. Steve will sie gegen ihren Willen bezahlen. Und Wethu besteht sogar darauf, ins Gartenhäuschen zu ziehen. Dabei sind sie keine Ausnahme. Haushaltshilfen sind für alle Vorstadt-Bewohner ebenso selbstverständlich wie ein gemeinsamer Wachdienst. Auch wenn die Sicherheitsleute ganz offensichtlich „Impimpis“ sind, ehemalige schwarze Polizeispitzel des Apartheidregimes. Doch die Sicherheitslage ist nach wie vor brisant. Die anhaltende Armut breiter schwarzer Bevölkerungsschichten bleibt treibender Motor für die hohe Gewaltbereitschaft. Ihr Freund, Nachbar und Genosse Jake wird im Auto niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Die existenzielle Not in den Slums ist so groß, dass sie in brutalen Exzessen gegenüber Millionen eingewanderter Flüchtlinge aus dem Nachbarland Simbabwe ihr Ventil findet. Sogar vor den eigenen schwarzen Landsleuten macht die exzessive Kriminalität nicht halt. Als Wethu zwei schwarzen Jungs durch den Zaun Wasser reichen will,

… wurde es ihr aus der Hand geschlagen, und die Schlüsselkette wurde von ihrem Handgelenk gerissen; über den Knöcheln platzte die Haut auf, ihre Finger wurden verbogen. (…) sie schrie und hatte eine Faust halb im Mund, sie würgte und wurde, (…) zur Küchentür gestoßen, (…) ein glatter, starker junger Arm schlang sich fest um ihren Hals und das Kinn (…) Du weißt! Kohle und Knarren! (…) Ein klobiger Segeltuchstiefel trat ihr in den Bauch, sie schrie auf, und plötzlich sah sie das Gesicht des jungen Mannes, das sich ihr näherte, bevor er zuschlug – Ich könnte deine Großmutter sein!

Wut und Enttäuschung mischen sich mit Angst vor der Zukunft – vor allem für die Kinder.
Die Krise wird existenziell. Das Vertrauen in die politischen Weggenossen ist zerstört. Die Partei gespalten. Jabu und Steve wandern aus. Australien ist längst beschlossene Sache. Auch wenn das Land die eigene Unterdrückung der australischen Ureinwohner selbst nur unzureichend verarbeitet hat. Familie Reed schließt sich dem „Braindrain“ an, mit dem Fach- und Führungskräfte seit Jahren Südafrika verlassen. Daran kann auch die hitzige Diskussion unter den Genossen am letzten Grillabend nichts mehr ändern.

Jake steht vor ihnen, als hätte er nicht nur die Genossen vor sich, sondern die ganze Stadt, das Land. (…) „UBUNTU: Eins der afrikanischen Wörter, die wir alle kennen, egal, welche Farbe – wir wissen, dass es irgendwas heißt wie: Wir sind alle gleich. Sagt es! Was draus geworden ist. (…)
Auf einmal, diesem Genossen Steve zugewandt: (…) Du verdammter Glückspilz – du bist jetzt draußen –
Der Augenblick, der ein ganzes Leben hält.
– Ich gehe nicht. –

Doch wer ist es, der am Ende des Abends und des Buchs „Ich gehe nicht.“ sagt? Damit hält Nadine Gordimer die zentrale Frage bis zum Schluss offen: Ist der Kampf jetzt endgültig verloren, oder fängt er vielleicht gerade erst an? Ist „Keine Zeit wie diese“ die resignierte Bestandsaufnahme einer missglückten Revolution? Oder bedeutet „No time like the Present“ nicht vielmehr im Sinne von Jabus Vaters Lebensmotto „Die beste Zeit ist jetzt“ – eine Ermutigung, die Revolution fortzuführen? Die Antwort ist ein klares „Jein“. In den schier endlosen Diskussionen zwischen den Genossen bleibt jedenfalls kaum ein Argument „Für und Wider“ unerwägt – nicht einmal das ketzerischste. Kunst ist eben nur dann authentisch, wenn sie das Leben nicht einfacher darstellt, als es in Wirklichkeit ist. Eine Lösung hält Nadine Gordimer in „Keine Zeit wie diese“ deshalb nicht parat. Statt dessen macht sie die politische Herausforderung gleichzeitig zur privaten, indem sie ihre gesellschaftliche Analyse des gegenwärtigen Südafrikas eng mit den individuellen Seelenlagen, Bewusstseinsebenen und Identitätskonflikten ihrer Figuren verknüpft. Denn persönliche und gesellschaftliche Revolution sind bei Gordimer nur zwei Seiten einer Medaille. In aller Konsequenz heißt das: Südafrika ist überall. Wir alle sind zu jeder Zeit und an jedem Ort verantwortlich für das, was hinter und vor unserer Haustür passiert. Genau das ist es, was das explosive subversive ästhetische Potenzial dieses Buchs ausmacht. Ein Buch, das deshalb über seine Zeit hinaus Gültigkeit behalten wird.

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