Blutsbruder Seneca
Durs Grünbein: An Seneca. Postskriptum/Seneca: Die Kürze des Lebens. Aus dem Lateinischen von Gerhard Fink. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2004. 85 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 25, 17.06.2004, Seite 21
NACHDICHTUNG Durs Grünbein adelt den neu übersetzten Stoiker mit einem Essay. Blutsbruder Seneca.
Der Autor und Büchner-Preisträger Durs Grünbein hat erst im letzten Jahr Senecas Drama „Thyestes“ im Stil des hohen Pathos des Königsdramas aus dem Lateinischen in deutsche Verse übertragen. Jetzt widmet er dem Stoiker anlässlich des von Gerhard Fink modern übersetzten Textes „Von der Kürze des Lebens“ ein Postskriptum.
Die Spurensuche beginnt für den Literaten schon als Junge. Dort stößt er zum ersten Mal auf den Namen des antiken Rhetorikers: Nicht, wie zu erwarten wäre, im Lateinunterricht, sondern in einem Buch über Indianerstämme. Für den kleinen Durs haftet die exotische Aura der Karl-May-Romane von nun an fest an dem Lateiner.
Selbst, als Kreuzworträtselfreund Großvater Grünbein das Geheimnis entzaubert: „Römischer Philosoph mit sechs Buchstaben? – Seneca. 4 vor der Zeitrechnung bis 65 nach. Stoiker, Tragödiendichter, Lehrer des Kaisers Nero, von diesem zum Freitod gezwungen.“ Und auch heute noch, gesteht der Autor, siegt in ihm der junge Indianerliebhaber, der zuerst „noch immer den Häuptling mit Kriegsbemalung und auf den zweiten Blick erst den römischen Aristokraten in seiner Toga“ sieht.
Der jugendliche Irrtum verschafft Grünbein jetzt eine ideale Ausgangsposition: Er liest den Text des Redners, der für die meisten im drögen Latein- und Geschichtsunterricht zur musealen Marmorfigur erstarrt ist, voller Bewunderung, aber gleichzeitig erfrischend respektlos. Ganz im Sinne der Suhrkamp-Reihe „Bibliothek der Lebenskunst“, die die alte Frage nach der „richtigen“ Gestaltung des Lebens aufzugreifen und den vergilbten Text „Von der Kürze des Lebens“ neu herauszugeben wagt. Und die sich damit ganz bewusst zwischen Literatur und Wissenschaft bewegt und dabei auf Fußnoten verzichtet.
Hochachtung zollt der Schriftsteller vor allem der ausgefeilten Rhetorik des römischen Kollegen, mit der der professionell ausgebildete Redner brillierte. Im Brief an seinen Freund Paulinus variiert Lucius Annaeus Seneca gekonnt professionell – dynamisch, in überraschenden Wendungen und pointiert – ein Thema, das zum Konsens antiker Moralphilosophie gehört: die begrenzte Lebensdauer, die der Mensch fahrlässig verstreichen lässt, indem er sie nur ungenügend zur einzig wahren Beschäftigung, nämlich der Philosophie, nutzt. In wohlklingenden, dem Text vorangestellten Versen schwärmt Grünbein durchaus affektvoll von der perfekten Sprach- und Stilbeherrschung des Klassikers der Redekunst.
Und doch verstellt der Respekt dem indianischen Fährtensucher Grünbein nicht den Blick für die Widersprüche des Römers. Im nachfolgenden Essay mimt der Literat den „saloppen Kommentator“ und sucht die Wahrheit über Seneca „Im Namen der Extreme“. Denn Senecas Tugend-Pathos klingt nur allzu unglaubwürdig in Anbetracht der Gegensätze seiner Lebenspraxis: „. . . Verdacht beschleicht/ Selbst den, der bei dir nichts als Wahrheit sucht“. Aus der satten Position des vermögenden Aristokraten, erfolgreichen Politikers, ruhmreichen Redners und geehrten Dramatikers lässt sich leicht, aber nicht eben sehr glaubwürdig von Enthaltsamkeit, Abstinenz von Ämtern und Würden und Missachtung gesellschaftlicher Anerkennung predigen.
Noch fragwürdiger ist allerdings seine Rolle als Erzieher und Vertrauter des Kaisers Nero, in der er als Mitwisser eine grausame Terrorherrschaft deckt, die ihm schließlich selbst zum Verhängnis wird, als er von seinem ehemaligen Schüler zum Selbstmord verurteilt wird. „. . . Dein eignes Leben hat dich widerlegt./ Verzeih mir, Toter“, konstatiert der „Nachfahr, jener Rüpel“ und kratzt respektlos an der ehrwürdigen Marmorbüste.
Durs Grünbeins Postskriptum präsentiert den verstaubten Text erfrischend unphilologisch, macht den Leser die zeitliche Entfernung vergessen und entspricht ganz der Intention der Suhrkamp-Reihe, denn er „schärft die Wahrnehmung, lädt ein zum Denken, macht Lust zum Philosophieren – und auf die Kunst zu leben“.