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Durs Grünbein: Vom Schnee

Durs Grünbein: Vom Schnee. Surhkamp Verlag 2003. 144 Seiten.


erschienen im Rheinischen Merkur

Durs Grünbeins neuer Gedichtband handelt, der Titel kündigt es an, „Vom Schnee“. Ein eher eintöniges Motiv; zu abstrakt, so scheint es spontan, um eine 144 Seiten lange Verserzählung von insgesamt fast dreitausend Zeilen zu füllen. Warum also entschließt sich der Autor – und zudem noch in einem artifiziell konstruierten historisierenden Langgedicht aus 42 Cantos mit je sieben Strophen à zehn Zeilen – ausgerechnet „Vom Schnee“ zu sprechen? Und das in einer nicht gerade zeitgenössischen lyrischen Sprechweise: im barocken Versmaß des Alexandriners? Grünbeins Ambition ist nicht unbescheiden: „Vom Schnee“ ist eine Eloge an die Geburtsstunde der Moderne. Der Schnee, das alles nivellierende Weiß, steht als Metapher für den geistesgeschichtlichen Nullpunkt.

 

Folgerichtig platziert der Autor den Zeitpunkt der Handlung auch in den Dreißigjährigen Krieg, die Phase der Zerstörung, des Umbruchs und des Neuanfangs, die wie keine andere das neuzeitliche Denken prägt. Buchstäblich logisch erschließt sich auch die prominente Besetzung des Grünbeinschen Historienspiels: René Descartes, der begabte Mathematiker, Physiker und Begründer der modernen Philosophie und sein Diener Gillot bestimmen die Handlung. Ort ist ein Dorf bei Ulm, in dem der erst dreiundzwanzigjährige Descartes im Winter 1619 einschneit, und wo er das mittelalterliche Denken von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellt und über den methodischen Zweifel zur einzig sicheren Erkenntnis gelangt: „Ich denke, also bin ich.“ Der große Denker bricht radikal mit der gesamten philosophischen Tradition und entwirft, gleichsam aus dem Nichts, aus seinem Axiom ein neues Denkgebäude.

 

Descartes erkenntnistheoretischer Zweifel bildet den Ausgangspunkt für einen jahrhundertelangen Kampf zwischen Rationalismus und Empirismus, der auch in Grünbeins Verserzählung seine Spuren hinterlässt. Der Geist-Körper-Dualismus findet seine Entsprechung in den beiden handelnden Figuren: Descartes und seinem Alter Ego, Diener Gillot. Grünbein lässt Herrn und Diener – Cervantes Don Quichote und Sancho Panca persiflierend – in endlosen Diskussionen unablässig miteinander streiten. Ein lyrischer Disput, der manchmal, wenn er ironisch und humorvoll augenzwinkernd daherkommt, gelingt, andere Male aber – in teilweise hölzerne Verse verpackt und mit platitüdenhaften Sprüchen und Sprichwörtern gespickt – wie eine schlechte Imitation des literarischenVorbilds wirkt.

 

Diener Gillot steht stellvertretend für Descartes körperliche Bedürfnisse, und diese fordern täglich ihr Recht. So stören mal die schlichte, sich in den Schnee brennende Notdurft oder der knurrende Magen des Burschen, der die Flaneure nach Hause treibt, die gemeinsamen philosophischen Schneespaziergänge. Und immer wieder konterkariert das sexuelle Begehren – Herr und Diener buhlen um die Bauernmagd Marie – oder der schnöde Zahnschmerz und Fieber die geistige Sphäre der Philosophenkammer. Nicht zuletzt stellt der im Hintergrund ständig präsente Allesvernichter, der Krieg, die Ratio in Frage. Schließlich und endlich unterläuft der Tod – das Langgedicht endet dreißig Jahre später mit Descartes Tod im Februar 1650 am schwedischen Hof – die rationalistische Argumentation.

 

Der Schnee, in Benjamin Lee Whorfs linguistischer Abhandlung über „Sprache – Denken – Wirklichkeit“ das Musterbeispiel für seine sprachliche Relativitätstheorie, steht in Grünbeins Verserzählung symbolisch für das erkenntnistheoretische und sprachkritische Bewusstsein der Moderne, dass eine objektive Wahrnehmung der Wirklichkeit, und damit Wahrheit, nicht möglich ist. Denn Wahrnehmung erweist sich als subjektive Konstruktion des Bewusstseins und Wirklichkeit wird als sprachlich vorstrukturierte Projektion des Geistes entlarvt.

 

Poetisches Ziel ist es daher, die immanente Ambivalenz des Schnees als Symbol der geistesgeschichtlichen Tabula rasa dichterisch zu evozieren. Durs Grünbein beschwört deshalb die Macht des Schnees in höchst suggestiven poetischen Metaphern und leuchtet all seine Facetten mit Bildern von starker Assoziationskraft aus. So entwerfen die barock intonierten Verse einmal karge gewaltige Schneelandschaften, in denen der Mensch, auf winzige Schattenrisse reduziert, sich aufzulösen scheint. Ein andermal gleißt der blendende Schnee so stark, dass er den Betrachter auf sich selbst und Grünbein den Leser auf die schlichte Kammer Descartes mit dem bescheidenem Interieur aus Bett, Tisch, Stuhl, Tintenfass und Papier zurückverweist. Oder der Autor malt – man meint manchmal, ihm beim Tupfen des Pinsels zuzusehen – üppige barock flämische Winterszenen mit Schlittschuhläufern, Eisfischern und wärmenden Reisigfeuern auf die frostige Leinwand.

 

So fungiert der Schnee einerseits als ideale Projektionsfläche für neue Gedankenkonstrukte, bedroht aber andererseits ständig als übermächtiges, alles nivellierendes Nichts das fragile, da im Denken erst neu zu kreierende, Individuum. Diese Konstellation ist paradigmatisch: Sie spiegelt musterhaft die in jedem kreativen Akt immer wiederkehrende Konfrontation des originär Schaffenden mit seinem Medium, dem weißen Blatt Papier oder der unbefleckten Leinwand.

 

Genau an diesem Punkt treffen sich Dichter, Philosoph und Maler und exakt hier spiegelt sich auch Autor Durs Grünbein, nicht ganz frei von Affektiertheit, in dem großen Philosophen. Der Grünbeinsche dichterische Impetus wirkt insbesondere dann, wenn er allzusehr mit dem Spiegelbild kokettiert, aufgesetzt und hypertroph. Auch die formstrenge Verwendung der barocken lyrischen Sprechweise und des alexandrinischen Rhythmus erzielt nicht immer die vom Autor intendierte Wirkung. Die inszenierte historisierende Sprache verkommt teilweise zum manirierten lyrischen Reimsport, der an eine ebenso kunstvolle wie gekünstelte Versdressur erinnert. Die hohe poetische Form, gebrochen nur durch den nicht immer überzeugenden Humor, wird dann als Anachronismus deutlich spürbar. Auch wenn die Qualität und Dichte der mit enormer assoziativer Energie geschaffenen kraftvollen Bilder und starken Metaphern immer wieder mit der Verserzählung versöhnen.

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