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Erzählen heißt Erinnern

 

Erich Hackl: Am Seil. Eine Heldengeschichte. Diogenes, 2018. 128 Seiten. (erscheint am 25. 07. 2018)

Rezension im Wiener Literaturhaus vom 19.07.2018

http://www.literaturhaus.at/index.php?id=12070

 

Dinge existieren nicht, wenn niemand davon erzählt. Erlebtes wird erst in dem Moment Wirklichkeit, wo jemand davon berichtet. Dazu gehören auch Ereignisse, die nie passiert sind oder Geschehen, die möglicherweise hätten stattfinden können. Nur was erzählt worden ist, besitzt Realität.

 

Jahrzehnte lang hatte Lucia es für wahr gehalten: dass ihre Freundin Erna Dankner 1941 beim Abtransport aus dem Wiener Sammellager für Juden, in dem sie beide wohnten, gestürzt, vom Hinterrad des Lastwagens überrollt und tödlich verletzt worden sei. Ob sie es selbst mit ansah oder es ihr erzählt wurde, weiß die Erwachsene nicht mehr. Erst siebzig Jahre später erfährt sie die Wahrheit: Erna hat damals noch gelebt. Und wurde ein Jahr später mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert und dort vergast. Ein Schicksal, das auch der damals zwölfjährigen Lucia und ihrer Mutter Regina vorbestimmt war. Hätten sie nicht noch am Tag der Räumung ihres Judenhauses Schutz gefunden in der Werkstatt von Reinhold Duschka, dem besten Freund und Kletterkameraden von Lucias Vater. Vier Jahre lang hält der Kunsthandwerker Mutter und Tochter versteckt. Bis zum Bombenangriff im März 1944 finden sie in seinen Arbeitsräumen im vierten Stock des belebten Werkstättenhofs Unterschlupf. Unvorstellbar. Selbst für Reinholds nach dem Krieg geborene Tochter Hellgard. Die erst als über Fünfundzwanzigjährige zufällig davon erfährt. Ihr Vater, für sie ein schweigsamer Eigenbrötler, hatte ihr nie davon erzählt. Als über Neunzigjähriger stimmt der Neunzehnhundert geborene Reinhold Duschka endlich zu, dass Lucia ihn für die Ehrung der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem vorschlägt. Erst danach beginnt Lucia, ihre Lebensgeschichte öffentlich zu machen. Und besonders Schülern von ihrer Rettung zu erzählen.

 

Vorwiegend auf ihre Erinnerungen stützt sich Erich Hackls Erzählung "Am Seil. Eine Heldengeschichte". Es ist eine erzählerische Dokumentation der Rettung Lucias und ihrer Mutter vor den Gaskammern der Nationalsozialisten durch Reinhold Duschka, die gerade durch ihre Sachlichkeit in die Knochen fährt.
Respektvoll und behutsam betritt Hackl als Erzähler den Gedächtnisraum, indem er sich vorstellt, wie die Kletterfreunde Reinhold Duschka und Lucias Vater Rudolf Kraus sich als junge Männer wohl kennengelernt haben. Was mag den Berliner Metallhandwerks-Gesellen Reinhold und den Wiener Mathematikstudenten zueinander hingezogen haben? Außer dem Bergsteiger-Ethos bedingungslosen Vertrauens und gegenseitiger Verantwortung. Es muss wohl ihre gemeinsame Wesensart, ihre "nüchterne Fürsorge" gewesen sein, die sie füreinander einnahm, vermutet Erich Hackl am Beginn seiner literarisch-historischen Reportage. Die gleiche "nüchterne Fürsorge", mit der Reinhold Duschka sich später wie selbstverständlich um Frau und Kind des Freundes kümmert, als es Rudolf nicht gelingt, die beiden zu sich nach Persien zu holen, wo er sich als Ingenieur hat hin versetzen lassen. "Hätte ich denn etwas anderes tun können?" soll Reinhold im Nachhinein auf die Frage geantwortet haben, warum er sie unter Gefahr seines eigenen Lebens bis zum Kriegsende versteckte, berichtet Lucia in einem Interview.

 

Diese fraglose Selbstverständlichkeit, in der der weder getaufte noch gläubige Reinhold zwei Menschenleben rettet, korrespondiert mit dem diskreten Berichtsstil Erich Hackls. In einer der Dramatik des Geschehens eklatant zuwiderlaufenden Nüchternheit protokolliert Hackl die Chronik der Ereignisse. Als stiller Erzähler, der sich selbst so weit wie möglich zurücknimmt. Der gewissenhafte Chronist hält sich an die Fakten, so weit es seine bis ins Detail recherchierten Informationen erlauben. Das beginnt bei der maßstabsgetreuen Beschreibung des Wohn-, Arbeits- und Überlebensraums im Werkstättenhof. Geht über genaue Listen wie die der wenigen Habseligkeiten, die Mutter und Tochter in ihr Versteck mitnehmen dürfen. Bis hin zur minutiösen Protokollierung des Tagesablaufs vom ersten Kübelausleeren am Morgen bis zum letzten erlaubten Geräusch am Abend vor der langen erzwungenen Stille, nachdem Reinhold die Eisentür von außen verschlossen hat.

 

Aber ein Leben ist mehr als die Summe seiner Fakten. Und besteht auch und vor allem aus all dem, was davon später noch erinnert und darüber erzählt werden wird. Und so reihen sich in Hackls Bericht auch blitzlichtartige Erinnerungsmomente aneinander, unverbunden wie Polaroids aus einem Fotoalbum. Auch Mutmaßungen und Empfindungen werden festgehalten. Bei subjektiven Eindrücken wechselt der Erzähler von der dritten Person in die Ich-Form und lässt die Beteiligten selbst erzählen. Im Laufe der Geschichte kommen mehrere Stimmen zu Wort. Neben Lucia und Regina tragen auch Reinholds Tochter Hellgard, sein Enkel Gerald und der Arbeitskollege Leo Graf mit ihren Erinnerungen zum Bild Reinhold Duschkas bei. So entsteht ein lebendiges Porträt, in dem Hackl nicht nur vielfältige Eindrücke und Versionen zusammenführt, sondern auch Vermutungen und sogar Widersprüche zulässt.

 

"Es gibt Dinge, die lassen sich nicht erfinden.", zitiert Erich Hackl den Historiker und Autor Robert Streibel in seinen Innsbrucker Poetik-Vorlesungen "Literatur und Gewissen". Die Geschichte von Reinhold Duschka, Regina Steinig und Tochter Lucia gehört dazu. Erich Hackl ist der unermüdliche Chronist solcher Lebensgeschichten. Hackl möchte sie mit seinen Erzählungen vor dem Vergessen bewahren. Literatur ist für ihn ohne soziale Verantwortung nicht denkbar. Dazu kombiniert Hackl Roman und Reportage. Erzählen und Erinnern gehören für ihn zusammen. Hackls große Kunst besteht darin, historische Wirklichkeiten so zusammenzufügen, dass die Bruchstellen und das diskrete Eingreifen des Erzählers erkennbar bleiben. Genau das macht die Authentizität seiner Erzählungen aus, auch jene der Heldengeschichte Reinhold Duschkas.

 

 

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