// Startseite // Buchkritik // 

Weh am Kilimandscharo.

Christof Hamann: Usambara. Steidl 2007. Zirka 264 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 37, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 13. September 2007, S. 23.

 

Der Berg ruft. Christof Hamann verwebt in seinem Familienroman "Usambara" kunstvoll Reisebericht und deutsche Kolonialgeschichte.


Manche Namen klingen so weit entfernt, als wären sie erfunden: Usambara zum Beispiel. Viele Dinge sind uns so bekannt, als seien sie schon immer dagewesen: wie das Usambaraveilchen. Diese Differenz zwischen dem fremden afrikanischen Gebirge und der nach ihm benannten vertrauten Zimmerpflanze hat das Potenzial für einen Roman – meint Christof Hamann und entwickelt daraus eine Geschichte. „Usambara“ ist nach „Seegfrörne“ und „Fester“ Hamanns dritter Roman.

 

Hauptfigur ist Fritz Binder, verkrachter Student und Postbote aus Wuppertal – und Urenkel des Erfurter Gärtners und Abenteurers Leonhard Hagebucher. Dieser habe im vorigen Jahrhundert das Usambaraveilchen entdeckt, sagt seine Mutter, so der Urgroßvater. Leider sei die Pflanze damals auf der Expedition nach Deutsch-Ostafrika im Jahre 1888 beim Araberaufstand in der Gefangenschaft des Rebellenführers Buschiri bin Salim verloren gegangen, erinnert sich der Urgroßvater später aus seinem Lehnstuhl. Die kompletten  Aufzeichnungen von Expeditionsleiter Hans Meyer und dem Forschungsreisenden Oscar Baumann sowie Hagebuchers Botanisiertrommel mit dem Veilchen aus dem Usambaragebirge seien von den Aufständischen vernichtet worden. Mit dabeigewesen sei er, als Dr. Meyer im darauffolgenden Jahr mit dem österreichischen Bergsteiger Ludwig Purtscheller als erster den Kilimandscharo bezwungen habe – den zur Kolonialzeit höchsten Gipfel im deutschen Reich. Aber das Usambaraveilchen habe er auch 1889 nicht mit nach Europa bringen können. So weit zumindest die Familienüberlieferung. Denn: Leonhard Hagebuchers Name wird in keinem der Reiseberichte erwähnt. Manche Abenteuer klingen eben so weit hergeholt, als wären sie erfunden. Aber einige Geschichten werden einfach so oft erzählt, als würden sie durch die Wiederholung wahr.

 

Zwei Briefe des Urgroßvaters könnten Aufschluss über die Echtheit der Geschichte geben. Aber Fritz scheut sich, sie übersetzen zu lassen. Denn die urgroßväterlichen Abenteuergeschichten haben seine Kindheit geprägt. Mit Sandkastenfreund Michael hat er sie im Solinger Lochbachtal immer wieder nachgespielt. Jetzt, nach dem Tod der Mutter, hat er endlich das Geld, seinen Kindheitstraum wahrzumachen: auf den Spuren des Pflanzenjägers wollen beide gemeinsam nach Afrika reisen, um den Kilimandscharo zu besteigen. Mit seinen vom Urgroßvater geerbten langen Beinen sieht Michael für Fritz gute Chancen, den Kibo-Gipfel zu erreichen. Denn von „den Hagebuchers sagte man von Anfang an, dass sie es vor allem mit den Beinen hatten. Sie konnten, so hieß es, träumen mit ihren Beinen.“

 

Fritz neue Freundin Camilla Becker sieht das anders. Sie meint, mit dem Bergrennen laufe er vor sich selbst davon. Statt, wie der ihrer Meinung nach latent nationalistische Urgroßvater, als Mitläufer beim Kilimandscharo Benefit Run mitzurennen, solle er doch erst einmal den Fritz-Binder-Berg angehen. Tatsächlich wird der Gipfelsturm für Fritz zum „Marsch zu sich selbst“ – wie Hans Meyer laut der Erzählung seinen Reisebericht über die Erstbesteigung des Kibo überschreiben will. Schon in der Vorbereitung beim Berchtesgadener Trainingslauf übers Purtschellerhaus zum Hohen Göll stößt er an seine körperlichen Grenzen. Und er wird zunehmend in die familiäre Vergangenheit involviert: „Ich erinnere mich, also bin ich über hundert Jahre alt. Eine mir verhasste Stimme wiederholt seine Worte, ich wiederhole die Wiederholung. (…) Wortketten. Lebensmärchen.“

 

Immer enger werden Urgroßvater- und Urenkel-Geschichte, auch erzählerisch, ineinander gekoppelt . Die Etappen der Reise – Planung, Hinfahrt und Aufstieg zum Kilimandscharo – werden vom Autor geschickt ineinandergeschnitten, mit steigender Spannung parallelgeführt und immer dichter miteinander verwoben. So weit, bis Erinnerung und Gegenwart zu verschmelzen scheinen, bis Ich-Erzähler Fritz die Geschichte des Urgroßvaters in der Ich-Form zu Ende führt. Detailgenaue Reisebeschreibungen werden dabei zunehmend von surrealen Sequenzen durchwirkt – ein Markenzeichen des Autors Christof Hamann. Kaum mehr sind Realität und Fieberphantasien des höhenkranken Bergläufers Fritz auseinanderzuhalten. Was ist Wahrheit, was erfunden? Vielleicht schaffen die Briefe des Urgroßvaters Klarheit. Kibo-Run-Teilnehmer Werner kann sie entziffern. Doch mit seiner zweifachen Übersetzung lässt er Fritz und den Leser im ultimativen Zweifel. Der Urenkel jedenfalls muss die Bergbesteigung abbrechen. Freundin Camilla scheint rechtzubehalten: Man könne eben nicht immer weiterlaufen, nicht aus der Welt hinauslaufen; irgendwann müsse man umkehren, sonst fiele man herunter. Aber wird Fritz von der Höhenkrankheit nun komplett zu Fall gebracht? Oder kehrt er – wie Hagebucher, das literarische Vorbild aus dem Raabe-Roman „Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge“ – in die heimatliche Provinz nach Wuppertal zurück?

 

Wer kennt sich da noch aus, wenn der Autor im Strudel assoziativer Reihungen, rhythmisierter Wortketten und halluzinativer Verknüpfungen am Ende Räume, Zeiten und Realitätsebenen kunstvoll ineinanderwirbelt? Christof Hamann hat den Leser im Verlauf höchst dramatischer Erzähldynamik mit auf den Gipfel des Kilimandscharo geführt und lässt ihn nun mit dem Helden abstürzen. Der Kilimandscharo ist eben mehr als nur ein Berg: Er ist ein „Zauberwort“ und „Wirkungstreffer“ – so der schmunzelnde, durchweg ironische Jargon des Romans. Diese Ironie versöhnt den Leser mit den manchmal handwerklich beinahe zu perfekt ausgearbeiteten Erzähleffekten des Romans. Der Kilimandscharo fungiert als Kollektivsymbol für die Sehnsucht nach Ferne und Bezwingung des Fremden. Aber er steht auch für Nationalismus, Rassismus und geistigen Kolonialismus. Der Autor versteht es geschickt, die schillernden Bedeutungsvalenzen des Kilimandscharo literarisch zu nutzen. Christof Hamann verbindet Abenteuer- und Entwicklungsroman, verknüpft Hagebuchers Familiengeschichte mit botanischen Fakten, historische Reiseberichte mit kritischer Geschichtsanalyse und arbeitet zahlreiche weitere Subtexte ein. Alles genauestens recherchiert und streng erfunden selbstverständlich.

|