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Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts

Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie. 2007–2015. Jung und Jung Verlag 2016. 424 Seiten.

 

Sendung vom 27.05.2016 im Deutschlandfunk, Büchermarkt - Moderation Hubert Winkels

www.deutschlandfunk.de/peter-handkes-tagebuchaufzeichnungen-vor-der.700.de.html

Beitrag hören (Zitate gesprochen von Christoph Wittelsbörger)

 

Schmecken Früchte, die im Schatten reifen, nicht süßer?, sinniert der Tagebuchschreiber in einer seiner Notizen. Würden nicht besonders Beeren im Schatten sogar größer und entwickelten später die ideale Süße? „Schattenfrüchte“ könnten Peter Handkes aphoristische Gedankenbilder „Vor der Baumschattenwand nachts“ auch heißen. Zum einen, weil sie sich, wie aus der Zeit gefallen, im Schatten des Weltgeschehens weit jenseits tagesaktueller Ereignisse bewegen; vor den Toren von Paris in der wie klösterlichen Abgeschiedenheit von Handkes Wohnhaus und Garten in Chaville. Zum anderen, weil seine Maximen und Reflexionen den Schatten zum poetologischen Leitbild erheben. Der Essay „Lob des Schattens“, Tanizaki Jun’ichirōs Entwurf einer japanischen Ästhetik aus dem Jahr 1933, mag den Autor dazu angeregt haben.

 

Jeder Schatten ist anders, etwa jetzt die Schattenspiele, die besonderen, im Salbeistrauch – als verlängere jeder je besondere Schatten, mithilfe von Sonne und Wind, jenen Moment des „Schimmers des weißen Rosses im Scheunenspalt“ (nach dem „Buch vom Südlichen Blütenland“ das Bild der Kürze des Lebens) und lasse den Moment, das Schimmern dauern

 

Handkes Versuch einer poetischen „Schattenlehre“ zeichnet aber auch ein „Umkehrbild“ von Platons Höhlengleichnis. Nach Sokrates Parabel kann der Mensch nur Schatten der Ideenwelt wahrnehmen. Bei Handke dagegen formen sich bewegte Schattenbilder zu heiligen Schriftzeichen. Wer sie zu entziffern versteht, kann aus ihnen das Geheimnis der Schöpfung lesen. Schatten-Strukturen und -Muster werden als Ornamente eines überzeitlichen Mosaiks erkennbar.

 

Im Augenblick der Form-Wahrnehmung, -aufnehmung, -auffassung, -erfassung, auch „nur“ einer rostenden Türschnalle samt Schatten in der Sonne bin ich nah am Geheimnis

 

Das klingt nach poetischem Glaubensbekenntnis. Und es soll auch eins sein. Handke sieht sich als Bewahrer einer Erzähl-Religion. Die Tagebuch-Aufzeichnungen sind tägliche Meditationen und Gebetsrituale eines Literatur-Mönchs. Sein Ziel: mit seiner Überlieferung das Gedächtnis und den Glauben an die Erlösung durch eine weltumspannende Erzählung wachzuhalten. Handkes Vorbilder sind Dichter wie Hölderlin oder Goethe und große pantheistische Denker der jüdischen, christlichen und islamischen Religionen wie Spinoza, Jakob Böhme oder Ibn ʿArabī. In ihrer Nachfolge will der Erzähler am „Letzten Epos“ weiterschreiben. Der biblisch geschulte poetische Impetus Handkes ist oft von geradezu beklemmendem Sendungsbewusstsein – wären da nicht die für Handke typischen „Umkehrformeln“.

 

Wie die Umkehrfarben, der Umkehrwind usw., so auch die Umkehrfunde – zum Beispiel im Umkehren auf der Landstraße heute früh die auf einmal aus der Böschung hervorleuchtenden Erdbeeren

 

Handkes „Umkehrblick“ richtet sich, als treuer Schüler von Stifters „sanftem Gesetz“, vor allem auf das scheinbar Kleine und Nebensächliche im Schatten der Wahrnehmung. Auf Nüsse oder einen toten Maulwurf, Schwalbennester oder Spatzenbadekuhlen im Sand am Bahnhof. Sein „Schattenblick“ gilt auch amorphen Strukturen oder Bewegungen wie dem rhythmisch durchwirkten Ameisenhaufen, dem Rauschen des Nachtwinds in der kahlen Birke, den ersten Tropfen des Sommerregens auf den Dachschieferplatten oder dem Kreisen der Baumschatten an der Zimmerwand in der Nacht. Tatsächlich gelingt es Handke immer wieder, das scheinbar Unsichtbare sichtbar zu machen. Und damit allein durch schlichtes Benennen von Sinneseindrücken sein „Letztes Epos“ gleichsam zu erden. Typisch Handke eben; einfach unvergleichlich:

 

Unvergleichlich: das Geräusch, mit dem ein Nagel aus dem Holz gezogen wird
„Unvergleichlich“: der unvergleichliche Glanz auf den Schlittenkufen nach dem Rodeln in einem hartgefrorenen Schnee
Eine weitere Unvergleichlichkeit: der Kitzel vom Flügelschlag einer Eintagsfliege im Handteller

 

Darf man das? Sich nur im Schatten bewegen und dabei das aktuelle politische Weltgeschehen ausblenden? Ja, man darf. Wenn man es mit der gebotenen Ironie tut. Diese liegt bei Handke nicht immer direkt auf der Hand. Obwohl Widmung und Motto der Tagebuchaufzeichnungen sie bereits ankündigen. Im Motto zitiert Handke seinen Schriftheiligen, Johann Wolfgang von Goethe:

 

„Andere werden von wichtigen Dingen Nachricht gegeben haben; indessen ich in meinem beschränkten Kreise das Herkömmliche lebendig zu erhalten bemüht bin“

 

Handkes Tagebuch ist „dem Koppenfelsischen Scheunengiebel“ zugeeignet. Gemeint ist der Hausgiebel von Goethes Weimarer Nachbarn von Koppenfels. Dieser stört seinen freien Blick in den sonst völlig von der Außenwelt abgeschirmten Garten. In einem „neckischen Gelübde“ gelobt Goethe, er sehne diesen störenden Giebel nun herbei und werde ihn niemals mehr beklagen. Deutlicher kann Handke den ironischen Gestus seiner Tagebuchnotizen wohl kaum markieren. Arm in Arm mit Goethe posiert Handke für das Doppelporträt eines Schriftstellers als provinzieller Menschenfeind und großer Dichterfürst. Und bewegt sich damit in „Vor der Baumschattenwand nachts“ wie gewohnt auf dem schmalen Grat zwischen Understatement und Größenwahn. Diesen Gestus mag man mögen oder hassen. Eins bleibt er in jedem Fall: lesenswert.

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