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Irgendwer bestimmt immer

Roswitha Haring: Das halbe Leben. Ammann Verlag 2007. 171 Seiten.

Rheinischer Merkur (Spezial), Nr. 24, Rubrik: Büchersommer, Donnerstag, 14. Juni 2007, S. 7

 

Großvaters Baum wirft lange Schatten. Erzählband. Roswitha Haring beschreibt auf heitere und treffende Weise die Crux eines ganz normalen Familienlebens: Irgendwer bestimmt immer, wie die Dinge im Alltag geregelt werden.


“Du fährst ins Ferienlager, hat irgend jemand zu mir gesagt, und alle sagten, toll.“ Sie selbst wird nicht gefragt. So geht es schon das halbe Leben. „Das halbe Leben“ heißt der neue Band von Roswitha Harig über die fortdauernde Fremdbestimmung ihrer in der Abfolge der Geschichten heranwachsenden Ich-Erzählerin.

Irgendwer stellt immer Regeln auf. Im heimischen Garten sagt der Vater, was zu tun ist. Als Hüter der vom Großvater gepflanzten Obstbäume bestimmt er: Beim Pflücken hat man unter der Leiter Posten zu beziehen und das herunterfallende Obst aufzufangen; die Äpfel sind einzeln zu polieren und dann mit dem Stil nach unten zu lagern. Drinnen gilt die Hausordnung der Mutter: Wer rausgeht, nimmt den Müll mit; unordentlich eingeräumte Wäsche wird wieder aus dem Schrank geworfen, und für die Geschenke zur Jugendweihe schreibt man Dankesbriefe. Der Text der Danksagungen besteht aus vorgegebenen Formulierungen. Die Adressierung folgt einem geheimen Muster. „Fang hier an!“ zeigt die Mutter in der Erzählung „Ab jetzt“ auf einen ganz bestimmten Punkt auf dem Briefumschlag. Eine exakte unsichtbare Markierung, die man offensichtlich kennen muss. Sie trifft sie nicht ein einziges Mal. Immer wieder geht es daneben: Der Name will nicht in eine Zeile passen, die Anschrift schert links oder rechts aus der gedachten vertikalen Linie aus, die Buchstaben geraten mal zu groß, mal zu klein.

Auch das meiste andere misslingt ihr: das Radfahren, die Kanutour, die erste erotische Erfahrung. Dabei will sie gar nicht aufbegehren. Sie möchte eigentlich alles richtig machen. Aber sie scheitert unentwegt an den Regeln, die alle anderen mühelos zu beherrschen scheinen. Und sie versteht sich nicht auf die für sie nicht einsichtige Ordnung, die diese scheinbar problemlos durchschauen. Überhaupt die Ordnung. Alles muss eine Ordnung haben: Das Freizeitprogramm im Ferienlager, die Fließbandarbeit in der Essiggurkenfabrik, ja sogar die Abende in der Disko. Die Freundinnen wissen immer genau, was sie tun müssen. Sie dagegen stolpert unbeholfen durch ihre erste erotische Begegnung – und fragt sich auch noch bei jeder Bewegung, ob das wohl so seine Ordnung habe und dass sie jemanden fragen müsse, später.

Unter allen Episoden schwelt die Furcht, nicht alles richtig zu machen. So fühlt sie sich oft schon vorsichtshalber schuldig. Wie für das Verschütten des Tees im Kaufhaus von Karlovy Var, eine Unachtsamkeit der Mutter. Wie ein zu fein geeichter Soziograph registriert die Ich-Erzählerin auch kleinste Gruppenregeln und ungeschriebene Gesetze – potenzielle Fallstricke ihres alltäglichen Scheiterns.

Es sind meist unscheinbare soziale Erzählsituationen, die Roswitha Haring entwickelt. Ölige Kleinbürgernachmittage und der Streit über die erfolgreiche Vernichtung von Maulwürfen im Garten. Eine freudlose Kanutour mit der bootssportbegeisterten Theresia zum Wehr. Ein dumpfer Arbeitstag in der Putzkolonne eines Hotels. Die Dialoge werden indirekt aus dem subjektiven Blickwinkel der Ich-Erzählerin wiedergegeben. Sie steht dabei meist irgendwie an der Ecke; beobachtet vom Rand aus das Geschehen. Eine Art Bullaugenperspektive; die Begrenztheit des eigenen Blickfeldes bezieht sie mit ein. In der eingeschränkten Durchsicht erscheint der Betrachterin die Welt draußen und sie sich selbst fremd. Mit dem literarischen Bullaugenblick gelingt der Autorin aber paradoxerweise eine überzeugende Präsenz der inneren Wahrnehmung. Und die Subjektivität gewinnt durch geschickte erzählerische Generalisierung beispielhaften Charakter. Bei den Ereignissen handelt es sich um Muster. Das zeigen auch die Titel der Erzählungen: Es geht um „Macht“, „Versuchung“, „Kontaktsperre“ oder „Nötigung“. Es geht zwar nicht ums Ganze, aber doch immerhin um „Das halbe Leben“.

Das halbe Leben einer Ich-Erzählerin, deren Sicht der Dinge den Leser trifft, weil sie mit einem verstörend unvoreingenommenen Blick auf die unhinterfragten kleinen Regeln des Alltags schaut. Der gleichzeitig ängstliche und trotzige Blick einer Heranwachsenden. Vielleicht verlieren die erzählerisch durchweg starken Geschichten auch deshalb erst in den letzen Episoden der schon erwachsenen Ich-Erzählerin an Reiz.

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