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Von Lebensaufklebern und Ortesammlern

Martina Hefter: Zurück auf Los. Wallstein 2005. 132 Seiten.

Rezension vom 30.10.2005 im titel-magazin
titelmagazin.com/artikel/4/2590/martina-hefter-zur%C3%BCck-auf-los.html


In einem wehmütigen Ton erzählt Martina Hefter vor einer Alpenkulisse das Leben ihrer Protagonistin Marlen, das durch das Verschwinden der Männer geprägt ist, und erinnert dabei stark an Thomas Bernhard.


Ein Hotel in den Bergen. An der Rezeption sitzt eine Frau in den Dreißigern. Die Ich-Erzählerin von Martina Hefters zweitem Roman „Zurück auf Los“. Eine Edward-Hopper-Szene: Das eingefrorene Bild einer einsamen Frau, absorbiert von der trostlosen Atmosphäre des Durchgangsortes. Es ist Nacht. Ihr Blick schweift über vierhundert Meter Luftlinie hinweg zu dem einzelnen Licht aus ihrem Haus jenseits des Tals, am Hang vor der gezackten Linie der Tannheimer-Gruppe. Zu ihrem Freund Raimund, der sie morgen verlassen wird. „Wie nah mein Haus an den Berghängen steht, und wie weit es vom Hotel entfernt ist! Diese unermeßliche Entfernung vom Hotel zu meinem Haus, sage ich.“ Eingespannt in die Flüchtigkeit und Unbehaustheit des Hotel-Foyers und ausgesetzt der Endlosigkeit und Zeitenthobenheit des unüberbrückbaren nächtlichen Tals, sucht Ich-Erzählerin Marlen Orientierungspunkte in ihrer Erinnerung.


Aber das Fortgehen des Freundes reiht sich nur nahtlos in die durchgängige Geschichte vom Verschwinden der Männer in ihrer Familie ein. Der Großvater ist nicht aus dem Krieg heimgekehrt, und ihr Vater hat sich als Bergführer und Wirt in eine abgeschiedene Alphütte bei Oberstdorf zurückgezogen. Auch beim Vermessen der Erinnerungslandkarte stößt sie lediglich auf die Zufälligkeit biografischer Ortswechsel. Die Begegnung mit dem Großvater hat die Großmutter und damit die ganze Fa-milie in die Alpen geführt. „Völlig überstürzt, eigentlich zufällig hat es meine Großmut-ter von Berlin nach Johannisbach und nicht etwa nach Quasow verschlagen, plötzlich aufgetretener Zufall im Zusammenhang mit einer hektisch angetretenen Kraft-durch-Freude-Ferienreise im Sommer 1937. Es ist der größte Zufall unserer Familie, der Hauptzufall, der Oberzufall gewesen, sage ich.“

Vermessen der Erinnerungslandkarte


Wo ist zwischen all der Zufälligkeit und Beliebigkeit der Ort, an den man selbst gehen, und die Richtung, die man einschlagen könnte? Sollte man „Ortesammler" werden wie ihr Bruder Paul? Oder ist die Lösung vielleicht ein Satz? Das Wort, ein Sprachspiel? Wie das mit Raimund erfundene Spiel Marlens, durch Etikettierung der Dinge, durch „Lebensaufkleber“ die Welt zusammenzuhalten? Nein, die Ich-Erzählerin findet weder den alles umfassenden Satz noch vermag sie sich räumlich zu verorten. Weder in der Bergwelt, zwischen dem renovierungsbedürftigen Hotel und ihrem abbruchreifen Haus am Hang gegenüber, noch in der Familienheimat und Seenlandschaft Quasow, wo die Mutter in einem neuen Hotel ihre Zukunft plant. „Vielleicht ist das mein Grundgefühl, der Verdacht, von den affirmativen Aufschriften der Welt schon immer ausgeschlossen gewesen zu sein." Trotzdem versucht Marlen am Ende, sich der dauerhaften Ortlosigkeit und der Offenheit und Unabgeschlossenheit des Satzes zu stellen. Dem Satz, der sagt, man könne nie wissen, wohin der nächste Tag einen bringen werde. Dem Satz, der das Verstreichen der Tage betrifft und der ihren Vater aus der Welt heraus in die Hochgebirgseinsamkeit getrieben hat. Sie geht „Zurück auf Los“, sie wird fortgehen, mit Raimund, an einen unbekannten Ort, in ein neues Sprachspiel vielleicht.

Wehmütige Sprache


Es ist eine wehmütige Sprache, die Sprache in Martina Hefters Roman. Hochmusikalisch, mit weitgespannten tänzerisch schwingenden Satzpassagen. Durch Kommata verschachtelte Satzelemente überschneiden und überlagern sich, gehen ineinander über und werden wiederholt. Eine Komposition aus Variation und Wiederholung, die allzu oft an Thomas Bernhard erinnert. Genauso wie der innere Monolog, die Indirektheit der Rede und bedingter Vergangenheits-, Möglichkeits- und Zukunftsformen und die für Bernhard typische Apodiktisierung von Aussagen. Natürlich trägt das Alpenmilieu sein übriges dazu bei, aber die Analogien sind, wie in dieser charakteristi-schen Passage, unverkennbar: „Es ist also ein Versehen gewesen, sage ich in den Eingangsbereich des Hotels hinein und zu Raimund in meinem Haus hinüber, ich bin nur durch den Hang zum Überstürzen in unsere Familie in das Hotel gekommen, ich bin aus dem Überstürzen heraus in dieses übergeordnete Überstürzen geraten, in das Hotel geboren worden, aus lauter Überstürzen in Johannisbach geboren, ich hätte ja auch in Quasow geboren und zum Beispiel Jugendmeisterin im Paddeln werden können, Jugendmeisterin der DDR, sage ich.“ Parallel auch die in drastischem Gegensatz zu den Gedankenwucherungen stehende programmatische Handlungsarmut. Ebenso die Verallgemeinerung und Radikalisierung nebensächlicher Details. In einer Redundanz und enervierenden Nachhaltigkeit, die Peripheres im konsequenten Perpetuieren zu philosophischen Erkenntnissen gerinnen lässt.


All das erinnert an Thomas Bernhard. Und dennoch ist die Sprache Martina Hefters nicht nur epigonal. Statt von Aggressivität, die die Prosa des österreichischen Provokationskünstlers oft auszeichnet, ist ihre Sprechweise von einer zarten, tänzerischen und poetischen Tonlage durchzogen. Im Gegensatz zu Bernhard arbeitet die Autorin mit einer starken transzendenten Bildlichkeit: eingefrorene Momentaufnahmen, die ganze Erinnerungs-Zeiträume in einem visuellen Surrogat fixieren. Genau diese Mi-schung bernhardscher Stilmittel mit einem gegenläufigen poetischen Moment und lyrischer Metaphorik macht die ganz eigene Anziehungskraft von Martina Hefters Sprache aus. Ein eindrucksvoller Roman, der allerdings ohne die epigonale Sprachreflexion noch stimmiger sein könnte. Aber, um mit der Ich-Erzählerin zu sprechen: Das Entscheidende ist die Richtung, „sind die Schritte, die man in die Orte hinein-, und ob und wie man sie wieder herausmacht."

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