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André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein.

Eine Erzählung. Frankfurt / M.: S. Fischer 2008. 144 S.; geb.;
Rezension vom 24.09.2008 im literaturhaus.at
www.literaturhaus.at/index.php

Besessen davon, sich selbst zu verwandeln

Wenige Tage nach dem Tod seines Vaters stellt sich der Zwölfjährige vor den Türrahmen, wo Kerben das Wachstum der beiden Brüder anzeigen. Bei 1,86 Meter fügt er eine neue Markierung hinzu. Paul am 27. November 1968, schreibt er neben die neue Kerbe. Damit greift er der Zeit zehn Jahre voraus. Die Geburtsstunde eines selbst ernannten Visionärs. Paul ist André Hellers Alter Ego in seiner neuen Erzählung "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein".

Eher als für seine literarische Arbeit ist André Heller für spektakuläre Aktionen und Installationen bekannt. Aber Heller geht es nicht um Show, sondern um ganz persönliche Verwandlungsprozesse. In einem Interview bekennt er: "Ich bin nun einmal von dem Gedanken besessen, dass ich mich lernend verwandeln möchte." Hellers neue Erzählung "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" ist ein doppeltes Verwandlungsprojekt. Der Erzähler macht sich im Erzählen auf die Suche nach der allerersten Metamorphose seiner Kindheit. Von der erzählenden Rückschau erhofft er sich eine zweite Verwandlung: mit dem Losschreiben von alten Enttäuschungen möchte er Platz schaffen für Wunderbares. Aber Vorsicht: Autor und Erzähler sind nicht identisch. Bei allen überdeutlichen autobiografischen Spurenelementen legt Heller Wert darauf: "Die Oberhand beim Schreiben hatte (...) die Phantasie." Deshalb wählt er für das Buchcover Paul Klees "Maske mit Fähnchen". Die Maske steht für die Kunst, dahinter verbirgt sich der Mensch. André Hellers literarische Maske ist Paul Silberstein, Sohn eines zum Katholizismus konvertierten jüdischen Wiener Süßwarenfabrikanten. Der Junge wächst in wohlhabenden Familienverhältnissen auf. Trotzdem gehört er nirgendwo richtig dazu und fühlt sich überall fremd: innerhalb der von der Willkür des tyrannischen Vaters beherrschten Familie, im Wien der Fünziger Jahre, im erzkatholischen Internat. Dorthin hat der ungeliebte Kommerzialrat Roman Silberstein seinen Sohn verbannt. Im Kollegium Attweg ist alles mit Angst versiegelt, mit Sünde überschattet. Statt Chancen und Möglichkeiten präsentiert sich ihm eine Welt aus Verboten und Strafen.

Paul erkennt: Er muss sich eine Art von Heimat schaffen in dieser Heimatlosigkeit. Er sucht sie sich in seiner Phantasie. Mit dem Blick aus dem Fenster lässt er seine Gedanken auf Wolkenpferden zur Stoppellockigen fliegen; einmal hat er das Mädchen mit ihrem Pony auf einer Wiese neben dem Kollegium reiten sehen. In seinen Tagträumen stellt er sich vor, als erster Mensch im Asbest-Anzug ins Innere des Vesuvs zu steigen, um in der glühenden Lava nach Feuerfischen zu suchen; oder er möchte auf einer Jakobsleiter in den Himmel klettern. Aber mit den Fußangeln der jesuitischen Unglücksboten kann er nicht wirklich fliegen lernen. Der einzige Ausweg: Erst der trotzige Widerstand, dann die totale Verweigerung. Völlig unerwartet wird Paul vom plötzlichen Tod des opiumsüchtigen Vaters überrascht. Für den Zwölfjährigen bedeutet das die Rettung. Die Beerdigung mit den skurrilen Brüdern Silberstein gerät zur Farce. Heimliche häusliche Freudenfeiern und absurd komische Kaffeekränzchen mit Onkel Bel, York und Monte folgen. Die zwischen Ratlosigkeit und zaghafter Euphorie schwankende Stimmung wird von der Testamentseröffnung überschattet. Der Fabrikant hat grotesk hohe Schulden hinterlassen.

Bevor die Trauergäste abreisen, gibt Onkel York Paul einen guten Ratschlag mit auf den Weg – den besten: "Hör zu: Geboren wird man als Entwurf zu einem Menschen, und dann muss man zeit seines Lebens aus sich einen wirklichen Menschen machen." Paul nimmt seinen Onkel beim Wort. Sein erstes großes Ziel: In zehn Jahren will er 1,86 Meter groß sein. Danach fängt er an, im Haus Vasen zu verschieben und andere Dinge zu verrücken. Denn Paul will sich das vom Vater beherrschte Haus aneignen – und noch mehr. Er kann seine Mutter davon überzeugen, ihn nicht mehr nach Attweg zu schicken. Paul hat sich entschieden: Er will künftig über sich selbst bestimmen. Dazu macht er sich zunächst auf die Suche nach der Stoppellockigen. Paul findet das sterbenskranke Mädchen im Krankenhaus. Ein Stück Lava aus dem Vesuv legt er ihr auf die Eiserne Lunge und verspricht: Im Sommer werde er ihr im Pratervarieté zeigen, wie der Liliputaner Herr Fritz das Herz-As in das Innere eines Apfels zaubert. In diesem kreativen Verwandlungsakt bringt Paul sich noch einmal selber auf die Welt.

André Heller hat einen charmanten kleinen Entwicklungs- und Bildungsroman im Taschenformat über die Geburt eines großen Verwandlungskünstlers geschrieben. In pointierten Anekdoten und wundersamen Bildern erzählt er von einem Kind, das nicht Kind sein darf. Erst nach dem Tod des Vaters beginnt es damit, sich lernend zu verwandeln und aus sich selbst heraus und bei sich selbst Kind zu sein. Auf der Grundmelodie seiner eigenen Kindheit entwickelt André Heller eine erfrischend trotzige Geschichte voll von stacheliger Traurigkeit, wunderbarer Komik und melancholischer Ironie.

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