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Die Stille von etwas, das sich nicht bewegt

Guy Helminger: etwas fehlt immer. Suhrkamp 2005. 250 Seiten.

Rheinischer Merkur, Nr. 45, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 10. November 2005, S. 21.

Zweitveröffentlichung vom 12.12.2005 im titel-magazin
titelmagazin.com/artikel/5/2693/guy-helminger-etwas-fehlt-immer.html


ABSTRUS Guy Helminger beleuchtet Abgründe. Edward Hopper der Belletristik. In seinen Geschichten wird das Holen von Zigaretten in der Halbzeitpause zu etwas Existenziellem.

„etwas fehlt immer“. Manchmal sogar der Plot einer Story. Ausgeklammert, übersprungen, weggelassen. Wie die Aussage des Täters in der Erzählung „Mittelmeer“. Urlaub und Sonne verspricht der verdächtig harmlose Titel. Doch es geht um Mord. Eine brutale Tat. Das kann man aus den Reaktionen der Ermittler schließen. Das Geständnis selbst aber wird ausgespart. Nicht dargestellt, nimmt das Geschehen in der Fantasie des Lesers um so grausamere Formen an. Ein Effekt, den der luxemburger Wahl-Kölner Guy Helminger in seinem Erzählband „etwas fehlt immer“ zur Methode macht. Mit „Pelargonien“, einer der achtzehn enthaltenen Kurzgeschichten, gewann der Autor beim Bachmann-Wettbewerb 2004 den 3-sat-Preis.

 

So herausfordernd unspektakulär die Titel, so suggestiv ist die Wirkung der Erzählungen, die über eine unsichtbare Logik miteinander verbunden sind. Mit Figuren, die in Nebenhandlungen anderer Geschichten wieder auftauchen. Zum Beispiel Perl, der es liebt, Passanten vom Fahrrad aus auf den Kopf zu schlagen. Oder Rino Polokatt, der einen Golden-Retriever-Hund an den Hinterläufen unter der Decke aufhängt, um seine Sinfonie der Schmerzen aufzuzeichnen. Und Wampach, der nach dem Zigarettenholen in der Halbzeitpause eines Fußballspiels seine Wohnung nicht mehr wiederfindet. Was die Geschichten verbindet, ist die Angst vor dem, was nicht gezeigt wird. Ähnlich der „Stille von etwas, das sich nicht bewegt“, nimmt das Fortgelassene in ihnen Gestalt an. Bedrohliche Gestalt. Das plötzliche Gefühl, das „etwas fehlt“, hebt urplötzlich scheinbar gewöhnliche Tage aus den Angeln.

 

Nichts ist mehr wie gewohnt. Die Wahrnehmung verschiebt sich. Die Umgebung wird verdächtig. Das Bewusstsein ist von einem Moment auf den anderen schutzlos. Die Oberfläche der Normalität wird durchscheinend. Schrecken und Tod sind nur einen Zufall weit entfernt. Licht und Dunkel, Himmel und Häuserfassaden, Geräusche und Stille werden handgreiflich. Keine Nebensächlichkeit bleibt harmlos. Zigarettenrauch, Nudelsaucen oder Stubenfliegen werfen die Figuren aus dem Gleichgewicht. Figuren, die in ihrer existenziellen Ausgesetztheit eine schmerzhafte Einsamkeit ausstrahlen. Wie Slarg Bergen, der auf der Bahnreise zur Neustadt plötzlich alles nur noch in Schwarz-Weiß sieht und der vom Schaffner erfährt, dass er an seinem Studienort sterben wird. Oder wie Bleim, der aus Angst vor der Dunkelheit sein Haus die ganze Nacht hell erleuchtet, und dessen frisch verwitwete Nachbarin sich wortlos in sein Bett legt. Oder wie Totengräber Leo, von der unbekannten Marie verführt, die schließlich Opfer seines Rottweiler-Hundes wird.

 

Die Figuren werden aus ihrem gewohnten Zeit-Raum-Kontinuum hinauskatapultiert. Sie bewegen sich in ihrer eigenen vertrauten Welt wie Fremde. Durch eine irreale Verquickung von Parallelrealitäten wirkt das Gewohnte schlagartig absurd und das Abstruse normal. Ohne zu psychologisieren, entstehen eindrucksvolle Psychogramme. Und auch hier wieder vermittelt über das, was fehlt: nämlich das emotionale Vakuum. Jenseits der Fernsehbildschirme, des Fensterglases und der Autoscheiben lauert das Nichts. Hinter der verzerrten Wahrnehmung und wortkargen Dialogen stürzt die Angst ins Bodenlose.

 

Guy Helminger gelingt es, diese Leere greifbar zu machen. Wie in Bildern Edward Hoppers gewinnt sie in seinen Erzählungen an Materialität. Wie Hopper ist auch Helminger fasziniert vom Licht. Er entwickelt in seinen Geschichten eine außergewöhnlich starke Lichtmetaphorik. Das Licht materialisiert das Nicht-Sichtbare und macht das Sichtbare durchscheinend. Mit der ungewohnten Lichtgebung gelingt ihm das Fixieren von Eindrücken, die auf das verweisen, was fehlt. Eben damit öffnen die Geschichten Helmingers eine Vielzahl von Valenzen. Jedes Bild, jede Situation ist Ausgangspunkt zahlloser möglicher Geschichten, die den Betrachter und Leser zum Weiterspekulieren anregen. Mit der gezielten Technik der Aussparung erzeugen sie eine Spannung, die die Erzählungen über sich hinaus weisen lassen. Helmingers „etwas fehlt immer“ ist wie der Blick durch einen Glasflaschenboden: fremdartig, fantastisch, faszinierend.

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