Das himmlische Schmunzeln - oder über die göttlichen Formen der Ironie
Peter Henisch: Die schwangere Madonna. Residenz 2005. 345 Seiten.
Rezension vom 30.03.2006 im literaturhaus.at
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zuerst erschienen in: Literatur und Kritik, März 2006
Ironie, so der Duden, ist eine paradoxe Konstellation, die einem als frivoles Spiel einer höheren Macht erscheint. Was aber kann frivoler sein als „Die schwangere Madonna“? Der anzügliche Titel von Peter Henischs neuem Roman. Ein Roman, in dem die Ironie des Schicksals pausenlos ihr Spiel mit den Figuren, und eine Erzählung, in der der Autor unablässig sein Spiel mit der Ironie treibt. Zum Beispiel mit der Ironie als „transzendentaler Buffonerie“. Eine Form und Methode, „durch scheinbar Gegensätzliches einen komischen Effekt zu erzielen, der der Erkenntnis dient“, so Henisch in seinen Wiener Vorlesungen zur Literatur.
Aber nun zur Geschichte. Da ist zunächst Ich-Erzähler Josef Urban. Freier Journalist in gesetztem Alter, getrennt lebend, Vater eines zwölfjährigen Sohnes. Er leidet an zunehmender Zerstreutheit und chronischer Vergesslichkeit. Seine geplante Rundfunk-Sendung über Alzheimer-Patienten ist deshalb vielleicht keine wirklich gute Idee. Prompt lässt er das Band einen Tag vor Sendetermin im Studio liegen. Da er fatalerweise auch noch das Datum verwechselt, verpasst er am nächsten Morgen seine letzte Chance, das verlorengegangene Band rechtzeitig wiederzufinden. Statt des irrtümlicherweise für den Vortag bestellten telefonischen Weckdienstes klingelt ihn der zuständige Redakteur aus dem Schlaf, um ihm mitzuteilen, dass er nicht nur das Tape, sondern auch seinen Job verloren habe.
Der Beginn einer ununterbrochenen Folge tragischer Ereignisse von unwiderstehlicher Komik. Wieder zur falschen Zeit am falschen Ort, will er seinen Sohn eine Woche zu früh zum gemeinsamen Wochenende von der Schule abholen. Nun vollständig aus der Bahn geworfen, zieht ihn eine unwiderstehliche Macht auf den Schulparkplatz zu einem Auto mit steckengebliebenem Zündschlüssel. Von himmlischer Vorsehung getrieben, setzt sich Urban ans Steuer. Ohne Besitz eines Führerscheins und vollkommen zeit- und orientierungslos lenkt er das gestohlene Fahrzeug mit unbekanntem Ziel aus der Stadt. Die einzige Gewissheit: Er will weg. Genauso wie das Mädchen, dass sich, unbemerkt auf der Rückbank schlafend, nach einigen Kilometern hinter ihm aufrichtet. Maria heißt die Schülerin. Und schwanger ist sie. Wie ihre heilige Namenspatronin. Eine göttliche Komödie scheint Maria und Josef in dieser bibelnahen Schicksalsgemeinschaft zusammengeführt zu haben.
Aber damit nicht genug. Da gibt es noch Wolfgang Brabach. Marias Religionslehrer und Besitzer des Fluchtautos. Und: Vater des ungeborenen Kindes. Ausgerechnet eine Marienerscheinung war ursprünglich Anlass für Wolfgang, seiner göttlichen Berufung zum Priesteramt zu folgen. Eben wegen dieser Neigung zur etwas überzogenen Verehrung des weiblichen Geschlechts hatte er sich im letzten Moment aber doch noch für den Beruf als Religionslehrer entschieden. Wo ihm seine kluge Schülerin Maria begegnet. Ein Geschenk des Himmels. Aber vielleicht hatte er im Unterricht doch zu viel über Verkündigung gesprochen? Marias merkwürdiges Verhalten, ihr plötzliches Verschwinden und sein gestohlenes Auto lassen ihn jedenfalls wenig Gutes ahnen.
So der Auftakt der zum Heulen komischen Tragödie. Aber wo soll sie hinführen? Zunächst einmal Richtung Italien. Nach Venedig. Auf den Spuren Hemingways und seiner Erzählung über den sterbenden Oberst und das junge venezianische Mädchen. In die todesschwangere Atmosphäre des novemberkalten Venedigs, wo sich unter Josefs Fürsorge aufkeimende Leidenschaft zu mischen beginnt. Eine Konstellation von feinster Ironie. Eine Ironie nämlich, so der Autor in seinen Vorlesungen, „die etwas mit dem weisen Wissen um die Vergänglichkeit zu tun hat“ und mit dem gar nicht weisen Verhalten eines reifen Mannes, der sich in ein sehr junges Mädchen verliebt.
Die Geschichte von Maria und Josef dagegen scheint einem himmlischen Plan zu folgen. Jedenfalls gibt es genug Zeichen dafür: Sie stoßen auf die „Banca di Santo Spirito“, kehren im Restaurant „Paradiso perduto“ ein, schalten in die Radioübertragung einer Messe zu Mariä Verkündigung, hören auf der Weiterfahrt Madonnas Song „Like a virgin“ und erleben ein Wunder, als ein Bankautomat einen buchstäblichen Geldsegen vor ihnen ausschüttet.
So bricht das unfreiwillige Paar, vom Heiligen Geist und der Frohen Botschaft beseelt, im Gefühl grenzenloser Freiheit von Venedig aus zu einer Reise quer durch Italien auf. Ein Giro d‘Italia ohne festen Ort und Ziel und jenseits jeden Zeitgeschehens. Eine himmlische Tour von allerhöchster Ironie. Denn nicht nur Josef empfindet die heutige Zeit nicht mehr als seine Zeit. In ihrer nicht mehr nachvollziehbaren forcierten Beschleunigung und dem gleichsam permanenten Kriegszustand. Und in ihrer seltsamen Schwerkraft, in dessen Sog die kollektive Bangigkeit in eine unheilvolle Endzeitstimmung treibt. Die Flucht von Maria und Josef ist, als Negation der schlimmen Wirklichkeit, eine Antwort darauf. Ironie als Trotz Allem. Ironie als Überlebensmittel gegen die Verzweiflung.
Und für Momente scheint der Entwurf einer Gegenwirklichkeit sogar zu gelingen. Durch göttliche Fügung finden sie für einige Adventstage eine idyllische Heimat in einer Villa auf der paradiesisch schönen Insel Martana im Lago die Bolsena. Sonnenuntergangsfotograf Carlo, der adelige Besitzer, quartiert sie dort ein, um Maria jeden Morgen in der aufgehenden Sonne abzulichten. Für den todkranken Literaturliebhaber heißt Fotografieren, dem Geheimnis der Schöpfung auf der Spur, das Licht der Welt erst zur Erscheinung bringen. Kunst als Widerspruch gegen das Sterben. Ein höchst ironisches Konzept. Denn Ironie – und damit jede Art von Kunst – besteht, so Henisch, nicht zuletzt in einer ästhetischen produktiven Haltung gegen den Tod. Und für Carlo ist Marias Erscheinen nicht nur ein persönliches Zeichen des Himmels, sondern in der schwangeren Madonna wird die Gnade Gottes für die ganze Welt sichtbar: Marias und Josefs Geschichte ist Teil der Heilsgeschichte. Die aufkeimende Hoffnung ist, wie das Insel-Paradies des himmlischen Paares, jedoch begrenzt. Plötzlich verschwindet Maria spurlos.
Der Vorsehung entgeht sie aber dennoch nicht. Zusammen reisen Maria und Josef weiter in den Süden. Liebhaber Wolf, den Maria mit Handy- und SMS-Nachrichten hinterhergelockt hat, immer auf ihrer Spur. Aus Versehen verrät sie ihm ihren aktuellen Aufenthaltsort. Als das Trio sich begegnet, gerät nicht nur Wolfs moralische Standfestigkeit, sondern die gesamte Heilsgeschichte ins Wanken. Maria flieht vor den beiden sich verblüffend ähnelnden Liebhabern. Josef, von Heiligem Zorn getrieben, ihr hinterher. Sein Alter Ego Wolfgang zurücklassend, ist er damit auch sich selbst auf der Spur. Eine Suche nach Identität und Individualität, die viel mit Ironie zu tun hat. Denn Ironie, so Peter Henisch, ist nicht zuletzt die Reflexion des Begehrens nach Nichtanwesendem. Nach nichts Geringerem als nach Identität.
Wohin ihn diese Suche führt? Diesmal ist das Ziel klar. Nach Monterchi, zur „Madonna del Prato“, dem berühmten Fresco des Renaissancemalers Piero de la Francesa. Eine der seltenen Darstellungen der Muttergottes als Schwangere. Zum Wohnort des Straßenkünstlers Francesco, den Josef und Maria auf der Reise kennengelernt hatten. Als Josef das Gemälde der Madonna findet, erschreckt er, wie sehr die Gesuchte seiner Maria gleicht. Diese ist in Wirklichkeit gar nicht schwanger. Und längst mit dem jugendlichen Freund Francesco Richtung Südamerika unterwegs. In eine neue Zukunft, die für die beiden mit einem Hilfsprojekt für Indios beginnt. Francesco, der Prophet der Straße. Der Visionär eine besseren Gegenwirklichkeit, der sich perfekt auf die ambivalente, „den Schmerz des Einzelnen und das Unrecht des Ganzen ausdrückenden Rede der Ironie“ versteht. Das ironische Sprechen, das, so Peter Henisch, in engem Verhältnis zur prophetischen Rede steht. Franceso sieht in die Zukunft. Josef dagegen bleibt nur noch der Rückblick. Nachdem er eine Nacht bei der Madonna del Prato verbracht hat, muss er einem Commissario Rechenschaft über die vergangenen Geschehnisse ablegen. Seine Erzählung wird zum eigentlichen Überlebensmittel.
„Die schwangere Madonna“ ist eine kühne Parodie auf die christliche Weihnachtsgeschichte. Mit erzählerischem Augenzwinkern nimmt Peter Henisch das biblische Heilsversprechen aufs Korn. Aber die Geschichte von Maria und Josef gewinnt paradoxerweise durch die Ironisierung neue Kraft. Mit seinem göttlichem Humor lässt der Erzähler den Leser bis zum Schluss im Unklaren darüber, wie ernst er es mit seiner Geschichte meint. Hintergründig und undurchschaubar schwebt der Autor mit einem himmlischen Schmunzeln über dem Geschehen. Sein Erzählen aus beinahe überirdischer ironischer Distanz gibt der Hoffnung Nahrung, dass die sogenannte Realität doch kein auswegloses System sei. Über die Ironie der Ironie gelingt Henisch eine Aufhebung der Ironie. Und bewirkt beim Leser einen wie bei Wolf geradezu leidenschaftlich aus dem Bauch aufsteigenden Glauben daran, „daß die unter der Vorherrschaft einer zur Eroberung des Globus entschlossenen Wirtschaft empörend profane Wirklichkeit einfach nicht wahr sein, daß man diese mit zum raschen Verbrauch bestimmten Konsumgütern überfüllte Leere, diese Gottverlassenheit der Welt nicht unwidersprochen lassen dürfe.“ Peter Henischs Roman ist ein himmlisches Lesevergnügen, bei dem wir über das Lachen das Hoffen wieder lernen können.