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Eingefrorene Bilder

Kerstin Hensel: Schleuderfigur. Gedichte. Luchterhand 2016. 136 Seiten.
Sendung vom 07.12.2016 im Deutschlandfunk, Büchermarkt
http://www.deutschlandfunk.de/kerstin-hensel-schleuderfigur-eingefrorene-bilder.700.de.html?dram:article_id=373316
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Gedichte, Lesungsausschnitte und Interview-Passagen mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Luchterhand Verlages.

 
Die Lyrikerin und Erzählerin Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Heute lebt sie in Berlin-Pankow. Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester studierte sie am renommierten Johannes R. Becher Institut für Literatur in Leipzig. Seit 1987 arbeitet Kerstin Hensel als freiberufliche Schriftstellerin. Zuletzt erschienen von ihr die Gedichtbände „Bahnhof verstehen“ (2001) und „Alle Wetter“ (2008), die beiden Romane „Falscher Hase“ (2005) und „Lärchenau“ (2008), die Liebesnovellen „Federspiel“ (2012) und der Band „Das verspielte Papier“ (2014). Schon in den achtziger Jahren kam sie über eine Stelle als Aspirantin am Leipziger Theater zum Schauspiel. Seither unterrichtet sie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Aus dem Theaterzusammenhang stammt auch der Titel ihres neuen Gedichtbandes „Schleuderfigur“. Schleuderfiguren sind Körperhaltungen, die aus dem plötzlichen Abbruch einer heftigen Bewegung, aus ihrem Einfrieren entstehen.

Bei der Schleuderfigur wird Zufall zum System und Fantasie zur Spielregel: Wer geschleudert wird, muss bei Stopp stillstehen. Verharren in der eingefrorenen Bewegung. Wer rät, was sie darstellt? „Schleuderfigur“ nennt Kerstin Hensel ihren neuen Gedichtband. Sie bezieht sich damit auf ein uraltes Kinderspiel. „Schleuderfigur“ heißt einer von insgesamt fünf Zyklen. Aus den Versen dieses Zyklus‘ spricht ein „altes Kind“. Einmal ist es ein kleines Mädchen, das zwanzig Jahre nach dem Krieg an der Teppichklopfstange Bauchwelle-Überschwung übt. Ein andermal ist es ein sich als Erwachsener erinnerndes Kind, das von DDR, Mauerfall und Flüchtlingskrise erzählt. Das „erwachsene Kind“ blickt zurück auf Dinge, die es noch gar nicht erlebt haben kann. Und reimt verspielt Gegenwart auf Vergangenheit. Mit Versen zwischen Zauberspruch und Kindersingsang macht sich das Kind seinen eigenen Reim auf die Welt.


Schleuderfigur

 

Der Samstagmorgen schickt mich zum Bäcker Brodlnholn
Heim trag ich ein Netz voller Frösche
Der Samstagmittag kommt auf Rollschuhen Vater
Vom Fließband Lungenhaschee
Serviert auf dem Nierentisch Mutter
Spielt mit dem Herzkaschper Mir fällt
Ein Märchen ein und der Quirl springt aus dem Topf

Was soll nur ma aus dir wer’n wennde nischt wirst?
(…)

 

Am anderen Ende der Lebenszeit steht im ersten Zyklus des Bandes ein alterndes Ich, das einen Verstorbenen betrauert. Diese Gedichte unter dem Titel „Vorhang“ sind vielleicht die emotional bewegendsten und formal überzeugendsten des Bandes. Der vermisste Tote ist überall: Plötzlich erscheint er auf der Treppe mitten in der Stadt. Oder im blinden Fleck des Katarakt-kranken eigenen Auges. „Ein Eckensteher: der Tod.“, konstatiert die Verlassene verzweifelt-nüchtern. Der Vorhang sei doch längst zu, stellt sie fest. Aber „Wir finden nicht mehr / Aus der Vorstellung“. Wut und Trauer über die Endgültigkeit des Verlustes wechseln sich ab. Die Aussicht auf den eigenen Tod wird mit bitterer Ironie kommentiert:

 

Laßt uns

 

Froh sein laßt uns und munter
Gehen die Freuden am Stock
Sehn wir Land auf und Land unter
Wund gedacht von dem Wunder
Daß wir ein wenig noch da
Sind wir nicht
Lustig trala

 

Auch im Zyklus „Mir eine Szene machen“ bewegt sich die Lyrikerin in der Bildsprache des Theaters. Der absurde Selbstbezug der sprichwörtlichen Wendung signalisiert den ironischen Sprech-Gestus der Gedichte. Sprachwitz verbindet sich hier mit einem erfrischend humorvollen Umgang mit der literarischen Tradition. „Sappho tritt zurück“ heißt es lapidar in einem Gedicht; in einem anderen „Ophelia steigt aus“. Die Freude der Autorin am Sprachspiel macht sogar vor Chronos, dem ehrwürdigen antiken Gott der Zeit, nicht Halt. Und selbst Shakespeares Bühnenklassiker „Romeo und Julia“ wird dekonstruiert. Bei allem Respekt vor den großen Dichtern – ein wenig Distanz kann nicht schaden, findet die Lyrikerin und lässt in ihren Zeilen „die Fische tanzen“:


KOMM MEIN TISCH STEHT AUF ZWEI FÜSSEN
Die Kapelle rockt den Kühlschrank
Fische tanzen auf Gemüsen
Leg die Gräten in die Bücher
Weil wir was wir missen müssen
Nicht nur lesen sondern leben
Komm mein Tisch steht auf zwei Füßen!

 

Von der griechischen Antike zum Müggelsee ist es bei Kerstin Hensel nur einen Zyklus weit. In „Durchgehen ja! Gelöster Saum“ betreibt die in der DDR aufgewachsene Autorin lyrische Heimatkunde. In der Berliner Chausseestraße besucht sie die Brecht-Weigel-Gedenkstätte. Und auf dem Südwestfriedhof das Grab von August Stramm. Sie schreibt ihm eine Hommage. Im Künstlerhaus Wiepersdorf widmet sie der ehemaligen Schlossherrin Bettina von Arnim freundschaftliche Verse – in Erinnerung an Sarah Kirschs berühmten Wiepersdorfer Gedichtzyklus. Das ist eine klare Verortung: Ihr Dichtungsideal ist eine realitätsnahe, engagierte und zugleich sprachlich reflektierte Poesie jenseits literarischer Moden und wirklichkeitsfremder Innerlichkeit.

 

O no ich nicht tu slämme
ich nicht fight ohn hemmed or häme
Ich nix bin auf noiestem stande
nix innenschau or außer lande
verreisen und verrissen bin
spitzzungig ohn stumpfensinn
o no ich nicht hab ein frätzlein
das jungzuck mit ehr will gehetzt sein.

 

„Alle sind wir bunte Vögel“ heißt der Schlusszyklus ihres Bandes. Es sind „Gelegenheitsgedichte“, die Eindrücke und Stimmungen von verschiedenen Orten in wechselnden Jahreszeiten festhalten. Die Tonlagen sind so unterschiedlich wie ihr Schreibanlass. Hensels Verse kommen mal stürmisch, mal sanft, mal wütend daher. Mal sind sie auch von zynischem Galgenhumor:

 

LIEBE BLANKGERUPFTER VOGEL
Auf der Zunge trag ich Federn
Und im Hals die Knochenflöte
Schluck ich’s oder pfeif ich drauf


Kerstin Hensels neuer Gedichtband „Schleuderfigur“ ist wohltuend unprätentiös und unsentimental. Nie schlägt sie einen falschen hohen lyrischen Ton an. Statt dessen spielt sie auf sämtlichen ihr zur Verfügung stehenden poetischen Registern. Ob verzweifelt-nüchtern, berlinerisch schnoddrig, frech und verspielt, ob pointiert oder lakonisch: Kerstin Hensel bleibt immer authentisch. Ihre genaue Spracharbeit ist am didaktischen Gestus Bertolt Brechts, aber auch an den sprachspielerischen Versen Sarah Kirschs geschult. Trotzdem sind Kerstin Hensels Gedichte nie epigonal. Die Lyrikerin hat ihre persönliche Gedichtsprache gefunden und fühlt sich dabei keinem Stil verpflichtet. Der Titel „Schleuderfigur“ signalisiert, dass sie beim Motiv auf den Zufall vertraut. Kerstin Hensel sammelt - wie beim altbekannten Kinderspiel – eingefrorene Bilder, um diese dann mit viel Lust an der präzisen Arbeit mit Sprache für sich und ihre Leser freizufantasieren.

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