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Danziger Zauberberg

Pawel Huelle: Castorp. C. H. Beck Verlag, München 2005.  252 Seiten.
Rheinischer Merkur, Nr. 11,  17.03.2005, Seite 34
Zweitveröffentlichung vom 02.05.2005 im titel-magazin
titelmagazin.com/artikel/4/2185/pawel-huelle-castorp.html

 

ROMAN Es gibt ein Leben vor dem Tod: Pawel Huelle spinnt eine tolle Geschichte um Thomas Manns Helden Hans Castorp

 

Ungeheuerlich wäre es, wenn ein zeitgenössischer Künstler zu Beethovens 9. Sinfonie ein Vorspiel zu komponieren wagte. Ebenso anmaßend erscheint das schriftstellerische Unterfangen, Thomas Manns „Zauberberg“ eine Erzählung voranstellen zu wollen, die den Helden in der Zeit vor seinem Aufenthalt in der Davoser Lungenheilanstalt schilderte. Genau das unternimmt der polnische Autor Pawel Huelle in seinem Roman „Castorp“. Ausgehend von einem einzigen Satz, die Hauptfigur habe „vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum hinter sich“, rekonstruiert Huelle die Vorgeschichte des jugendlichen Hans Castorp.

 

Äußerst souverän eignet sich der Autor die für Thomas Mann typische auktoriale Erzählhaltung mit Kommentaren oder direkter Ansprache des Lesers an. Ebenso überzeugend adaptiert sind die komplexen hypotaktischen Satzkonstruktionen und das die „Zauberberg“-Dialoge prägende humoristische Spiel mit leeren Phrasen und Füllwörtern. „Kurzum“, „da gibt’s nichts“, Pawel Huelle versteht es, den Leser vom ersten Satz an in den Bann der Sprache zu ziehen.

 

Auch Geschichte und atmosphärische Schilderungen nehmen sofort gefangen. Im Hamburger Hafen besteigt Castorp ein Dampfschiff nach Danzig. Gegen den ausdrücklichen Willen Konsul Tienappels, der fürchtet, der melancholische östliche Sog könnte Castorp auf Abwege bringen. Logische Fortsetzung dieser Drohung ist der Name des schwimmenden Stahlkolosses. Er heißt „Merkur“, der römische Gott des Handels, aber auch Führer der Seelen ins Totenreich. Aus dem „Zauberberg“ vertraute Reflexionen über Zeit und Tod nehmen folgerichtig schon auf der Überfahrt eine Schlüsselstellung ein.

 

Ebenso vertraut wie die mythische Stimmung, die den Helden gleich bei der Ankunft empfängt. Gegen die praktische und planende Natur Castorps läuft in Danzig alles von Beginn an „gegen die Ordnung“. Schon der seltsame Empfang der kaschubischen Hausangestellten in Witwe Hildegard Wibbes Pension gestaltet sich mehr als befremdlich. Bevor Castorp sich im Polytechnikum, wie vorgesehen, einschreiben kann, wird er bereits aus dem Raum-Zeit-Kontinuum hinauskatapultiert. Das Chaos gewinnt mehr und mehr die Herrschaft über die Ereignisse. Gegen alle Widerstände bemüht Castorp sich um ein konzentriertes Studium.

 

Bis er auf der Suche nach seiner geliebten, dem „Zauberberg“-Leser wohl bekannten Lieblingszigarre Maria Mancini in das benachbarte Seebad Zoppot verschlagen wird. Ein schicksalsschwerer Ausflug, bei dem er ein junges Paar beobachtet: den russischen Offizier Sergej Dawidow und die Polin Wanda Pilecka, eine slawische Schönheit mit leicht hervorstehenden Wangenknochen und graublauen Augen. Mit einem Hauch von Fremde und Osten und dem charakteristischen ambivalenten Reiz der von Castorp später im „Zauberberg“ verehrten Clawdia Chauchat.

 

Der Held verfällt ihr sofort. Er entwickelt eine erotische Leidenschaft, in deren Folge er von eigenartigen Erlebnissen, melancholischen Stimmungen, Träumen und Schlaflosigkeit heimgesucht wird. Psychiater Dr. Ankewitz, von dem Castorp sich Hilfe erhofft, erfährt von ihm einige Schlüsselszenen. Während eines Strandspaziergangs findet der Held einen Bernstein, Initiation einer musikalischen Vision und eines Nunc-stans-Erlebnisses, bei dem sich in Erinnerung an den frühen Tod der Mutter Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges überlagern. Rauschhaft wie die Nähe des Meeres wirkt auch der Besuch des erotischen Maskenballs im Etablissement „Omphalos“. Eine dionysische Szene zwischen Traum und Realität, in der der Held seine Geliebte wiederzuerkennen glaubt. Die Grenzen verwischend wie die zwei Schneespaziergänge, in denen Castorp, wie in dem berühmten „Zauberberg“-Kapitel, in eine „Zeitspalte“ fällt und in der er das sukzessive Kontinuum und die Identität als Konstruktion des Bewusstseins erfährt.

 

Seiner rationalen Kontrolle beraubt, erliegt der Held schließlich der Obsession und mietet sich im Kurort neben seiner Angebeteten ein Zimmer. Er folgt ihr und sucht bei den gemeinsamen Mahlzeiten und während der Liegekuren ihren Blick. Wie im „Zauberberg“ bleibt auch hier die Liebe unerfüllt. Die Beziehung endet, nach dem Mord an Dawidow und einem kurzen Gespräch mit der Geliebten, abrupt. Des Objekts der Leidenschaft beraubt, verfällt Castorp vollends seiner Passion. Bis er, auf einem dritten Schneespaziergang, eine Läuterung erfährt, die den „ewigen naiven Idealisten“, zumindest vorläufig, dem Leben wiedergibt und in die rationale Welt Hamburgs und Konsul Tienappels zurückführt.

 

Pawel Huelle hat seinen Roman ganz im Sinne Thomas Manns nach den Regeln einer musikalischen Komposition kunstvoll durchkonstruiert. Er lässt in seiner „Zauberberg“-Ouvertüre Motive anklingen, führt Themen ein, schlägt Rhythmen an, lässt Ahnungen entstehen und schürt Erwartungen. Erwartungen, die leider nicht immer eingelöst werden. Denn der Autor erzeugt eine Überfülle an Valenzen, die im Verlauf der Geschichte oft nicht aufgehen. Natürlich darf ein Vorspiel zu Thomas Manns „Zauberberg“ nur andeuten und nicht ausführen. Aber zum Ende hin zunehmend baumeln singuläre Motive manchmal haltlos im Leeren. Insgesamt liest sich Pawel Huelles Roman aber mit viel Genuss und großem Amüsement. Die stilistische Adaption ist brillant, die Mannsche Erzählweise humorvoll adaptiert und die Motive und Figuren ironisch zitiert und überzeugend integriert. Und schließlich, aber nicht zuletzt, macht die Lektüre – und was kann man von einer Ouvertüre mehr verlangen – Lust auf das Hauptwerk

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