// Startseite // Buchkritik // 

Schreiben als Durchgangsort

Norbert Hummelt: "Fegefeuer". Gedichte. Luchterhand 2016. 96 Seiten.

Sendung im Deutschlandfunk, Büchermarkt, vom 9.11.2016, Redakteur am Mikrofon Jan Drees

http://www.deutschlandfunk.de/hummelts-fegefeuer-dialog-mit-der-vergangenheit.700.de.html?dram:article_id=370883

Beitrag hören (Lesepassagen von Norbert Hummelt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand-Verlages und des Autors)


Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss am Rhein geboren. Er studierte von 1983 bis 1990 Germanistik und Anglistik in Köln und arbeitet seit 1991 als Lyriker, Essayist und Übersetzer. Seit 2006 lebt er in Berlin. Hummelt schrieb zunächst experimentelle Gedichte in der Nachfolge von Rolf Dieter Brinkmann und Thomas Kling. Nach seinem Debütband "knackige codes" 1993 wandte er sich 1997 mit seinem zweiten Gedichtband „singtrieb“ stärker traditionellen Formen zu und näherte sich Konzepten der Romantik. Von 1988 bis 1992 war er Leiter der Kölner Autorenwerkstatt. Er lehrte u.a. am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und ist Redakteur der Zeitschrift Text + Kritik. Hummelt wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wie dem Mondseer Lyrikpreis 1998, dem Hermann-Lenz-Stipendium 2000 oder dem Niederrheinischen Literaturpreis 2007. Jetzt ist sein neuer Gedichtband unter dem Titel "Fegefeuer" erschienen.

 

Es gibt mehr zwischen Himmel und Hölle als das Leben. Das Fegefeuer zum Beispiel. Ein Ort maßloser Schmerzen. Aber nur für auserwählte Sünder. Denn im Gegensatz zu den Verdammten, die nach ihrem Tod auf ewig in der Hölle schmoren, sind ihre Leiden endlich. Ihnen allen ist am Ende der Himmel gewiss. Nach katholischer Lehre ist das Fegefeuer ein Ort der reinigenden Buße. Die notwendige Läuterung als Vorbereitung auf die Begegnung mit Gott.

 

Auch das Schreiben sei ein Läuterungsprozess, sagt Norbert Hummelt. "Fegefeuer" nennt der Autor deshalb seinen neuen Gedichtband. Denn Ziel jeder Dichtung sei Erlösung. Durch die Steigerung des Schmerzes hin zur Schönheit.

 

Zu schreiben, um zu verwandeln, letztendlich auch, um sich zu verwandeln, um aus Schmerz Schönheit zu machen, wie es ja vielleicht die allgemeinste Formel gerade für Dichtung sein kann: Das ist schon ein ganz wichtiger Prozess. Und diese Reinigung ist ja eben auch eine Verfeinerung, eine Verdichtung, ja, eine Läuterung der Sprache letztlich.


60 Gedichte, aufgeteilt auf fünf Zyklen

 

In 60 Gedichten, aufgeteilt auf fünf Zyklen, vollzieht Norbert Hummelt diesen Läuterungsprozess im eigenen Schreiben nach. Dantes "Göttliche Komödie" habe ihm dabei als Kompass gedient, so der Lyriker. Analog zu Dantes literarischer Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt bewegt sich auch Hummelt in der Ich-Form durchs "Fegefeuer". Die Zahl drei, Verweis auf die Trinität Gottes, spielt bei Dante und in Hummelts Gedichten eine besondere Rolle.

 

Hummelts erster Zyklus "Triptychon" umfasst drei Gedichte. Im ersten Gedicht hat sich das lyrische Ich im Wald verirrt; wie Dante am Anfang der "Göttlichen Komödie". "die waldschlucht" heißt das Gedicht und ist, in Anlehnung an Dantes Versepos, in Terzinen verfasst.

 

Auffallend viele Gedichte in "Fegefeuer" sind in Dreizeilern geschrieben. Der Einstiegszyklus "Triptychon" markiert mit seinen Gedichten Anfang und Ende des Weges durchs Fegefeuer. "der wächter" bezieht sich auf den Engel am Eingang. Er bewacht die Pforte des Läuterungsberges, der über sieben Terrassen und die symbolische Reinigung von den sieben Todsünden in den Himmel führt. "der schleier" verweist auf "Beatrice", Dantes verstorbene Geliebte. In einen weißen Schleier gehüllt, erwartet sie ihn am Gipfel des Läuterungsberges auf der Schwelle zum Paradies.

 

Der Läuterungsberg befindet sich bei Dante auf einer weit im südlichen Meer gelegenen Insel. Norbert Hummelt verlagert sie in seinem Gedicht "die ölgangsinsel" in die Heimatregion seiner Kindheit. Auf eine Halbinsel zwischen Düsseldorf und Neusser Hafen. Hier ein kurzer Ausschnitt:

 

die insel, deren namen niemand kennt
liegt an der spitze einer schmalen zunge
die nur ein alter rheinarm noch vom hafen trennt.

 

u. ich erinnere mich, wie ich als junge
mit meinem vater zu der insel ging
kein schatten lag auf seiner lunge

 

u. er erzählte mir vom krieg, so manches ding
an das ich manchmal noch von ferne denke
u. seine worte formten einen weiten ring.

 

(...)

 

Die Erinnerung an die Begegnung mit dem früh verstorbenen Vater wird in Hummelts Transkription von Dantes Jenseits-Darstellung überlagert von der Begegnung mit Gott. Der lyrische Sprecher sehnt den vermissten Vater ebenso schmerzlich herbei wie die Sünder im Fegefeuer ihre Erlösung. Der Autor nimmt Bezug auf seine eigenen, auch von der katholischen Religion geprägten Kindheitserinnerungen. Und schreibt seine persönliche Geschichte - auf der Folie von Dantes "Göttlicher Komödie" in Versen kunstvoll überhöht und universalisiert - buchstäblich um. Poetologisches Ziel ist es, im Schreiben über die Begegnung mit der Vergangenheit einen literarischen Läuterungsprozess in Gang zu setzen.


Fegefeuer als Durchgangsort

 

Hummelt begreift das Fegefeuer in der Nachfolge von Dante als "Durchgangsort". Und zwar im genauen Wortsinn. Nicht als Zustand, sondern als Bewegung. Schreiben bedeutet für ihn Gehen. Sich schreibend vorwärts bewegen. In der Begegnung und im intensiven Gespräch mit den Verstorbenen. Das Gespräch im Gehen sei ein "wichtiger springender Punkt" zwischen der "Göttlichen Komödie "und dem, was ihm bei seinem Schreiben wichtig sei.

 

Und das ist etwas, das berührt mich stark. Und das ist natürlich auch ein biblisches Motiv, zum Beispiel bei der Geschichte vom Gang der Jünger nach Emmaus, die auf einmal einen neben sich gehen haben, der ihnen erklärt, wie sie alles verarbeiten sollen, was sie alles erlebt haben."

 

Das klingt nach Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln. Ganz im Sinne der Romantik und ihrem Ideal einer neuen religiös aufgeladenen Ästhetik, wie sie seither die Literatur prägt. Auch Norbert Hummelt möchte die unscheinbaren oder zerstörten Dinge romantisieren. In dem er sie so anschaue, als ob sie noch ein Geheimnis hätten. Ist das rückwärtsgewandt? Nein, sagt Norbert Hummelt:

 

Die literarische Bewegung hin zu liedhaften Formen, zu einem Ton, den man vielleicht entfernt von der Romantik herleiten kann, aber genausogut ist er, glaube ich, mit einem gewissen Alltagsrealismus konterimprägniert, dieser romantische Ton, das ist ja eher für mich eine Neugewinnung und keine Rückkehr.

 

Hummelts neoromantische Gedichte deuten zwar gerne Naturdinge als Sehnsuchtszeichen. Aber das Ergebnis ist keine Idylle. Denn die Verse sind durchweg mit Verfallsbildern markiert. Selbst im "sommer der niedrig fliegenden schwalben" findet sich das Echo gewaltsamer Zerstörung, die bis in die Gegenwart hinein fortwirkt. Auf den Spuren des allgegenwärtigen Krieges geht der Autor bis weit hinter seine eigene Erinnerung zurück. Sogar in die Zeit vor seiner Geburt. Aus historischen Dokumenten, Postkarten, Fotos oder Listen fantasiert Hummelt das Bild eines Krieges frei, den er selbst nie erlebt hat. Wie ein Ausschnitt aus dem Gedicht "verdunkelung" zeigt:

 

im luftschutzkeller war ein durchbruch; da wurde ich mal
durchgeschoben; ich ging im nebenhaus zur tür. da sah ich
viele stabbrandbomben brennend auf der straße liegen.

 

(...) bis heute ist


verdunkelung u. der kanarienvogel im käfig stirbt alle jahre
u. ist wieder jung. glühkörper, immer die heißen backen.
da hält sich die angst in den tütensuppen, die überhaupt kein


verfallsdatum kennt. solche angst, die speichert der körper
u. gibt sie erst am ende her. mit allen tellern u. keramikvasen,
nähartikeln, zuckerdosen, dem nachgelassenen schriftverkehr.

 

Nur im Dialog mit der Vergangenheit und ihren Verstorbenen ist Erlösung möglich. Das ist die Botschaft von Norbert Hummelts "Fegefeuer". Ein Gedichtband, in dem der Dichter den Leser in die Welt der Verstorbenen und durch das Jenseits der Erinnerungen führt. Wie der Dichter Vergil in der "Göttlichen Komödie" den verirrten Dante.

 

In seinem Gedichtband "Fegefeuer" begleitet Norbert Hummelt den Leser nur eine Weile auf dem Pfad, den jeder am Ende selbst zu gehen hat. In der Begegnung mit der eigenen Geschichte und den eigenen Toten. Norbert Hummelts zugleich melancholische und hoffnungsvolle Jenseitsgesänge zeigen nur einen möglichen Weg von vielen durchs "Fegefeuer". Das Paradies muss jeder Leser für sich alleine finden.

|