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Wenn die Jule pfeift...

Silvio Huonder: Dicht am Wasser. Roman. Nagel & Kimche, Zürich 2008.

Rheinischer Merkur (Literatur), Nr. 11, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 12. März 2009, S. 1.

 

Silvio Huonder: Im neuen Roman spukt ein Windgeist.


Legenden ranken sich um die brandenburgischen Seen. Wenn’s bei Fontane im Stechlin brodelt und der rote Hahn aus dem Wasser aufsteigt, dann geht etwas vor draußen in der Welt. Und bei Silvio Huonder heißt es: Wenn über den Julensee ein starker Wind geht, dann bringt er Unheil über Neumühl. Das zumindest berichten die Einwohner der beschaulichen Idylle. Denn ihr Dorf liegt „Dicht am Wasser“. So heißt auch Huonders neuer Roman. Grau wie gebürsteter Stahl schimmert an solchen Tagen der aufgewühlte See. Wie damals vor Zeiten, als Müllers Jule erst spät abends zur Mühle kam; ein neues Seidentuch um den Hals. Der eifersüchtige Müller hat dann die Jule einfach an ihrem Halstuch an die Flügel der Bockwindmühle gebunden. Als man sie später sucht, bleibt Jule verschwunden. Nur das Seidentuch – rot wie der Hahn vom Stechlin – flattert noch im Wind. So die Legende. Julenwind bringt Unglück, meinen die Leute. Eine düstere Grundmelodie für einen so strahlenden Sommertag auf dem Land. Nichts erscheint mehr harmlos. Jedes Detail kann Indiz für das drohende Unglück sein. Der hoch sensibilisierte Leser wird von Huonder zum Beteiligten gemacht. Wie einen Spürhund lässt ihn der Autor seine Fährte aufnehmen. Wer einmal „Witterung aufgenommen“ hat, muss seiner „Chronik eines angekündigten Unglücks“ folgen. Bis zum bitter-süßen Ende, wo ein Drama gut endet, aber gleichzeitig eine neue Tragödie droht.

 

Doch davor liegen noch ein langer Nachmittag, ein nicht enden wollender Abend und die hereinbrechende Nacht. Mit der Detailgenauigkeit eines Kriminalberichts folgt die Erzählung dem Tagesablauf der Beteiligten. Auf den ersten Blick präsentiert sich die gut bürgerliche Welt der Zweitausend-Seelen-Gemeinde friedlich und überschaubar. Das unaufregende kulturelle Leben von Neumühl findet zwischen Bioladen, Musikschule und Mühlenverein statt. Jeder kennt jeden. Die meisten sind aus Berlin mit ihren Familien in den letzten Jahren erst hierhergezogen. Es sind Pädagogen, Anwälte, Musiklehrer oder Unternehmer. Die Figuren und ihre Erlebnisse werden in schnell wechselnden kurzen Kapiteln vorgestellt, Handlungsfäden aufgenommen und weitergeführt. Schritt für Schritt knüpft der Erzähler ein umfangreiches Netz von Personen mit sich vielfältig kreuzenden Geschichten.

 

Eigentlich beginnt alles ganz harmlos. Nur leicht und unmerklich wird etwas verschoben. Und dann ist es auf einmal so, als geriete an diesem Freitag alles in Bewegung, wie vom Wind angetrieben. Eine getrennt lebende Mutter kommt verspätet zur Kindertagesstätte, um ihren Sohn zum Vorspiel zu begleiten. Ein pubertierender Sohn soll das Diebesgut seiner kriminellen Freunde verstecken. Der neunjährige Musikschüler Nelson Petri verzögert aus Angst vor dem Vorspiel den Nachhauseweg. Und sieht, was er nicht sehen soll: Seine Mutter in den Armen seines Musiklehrers. Als Nelson verschwindet, weht ein unruhiger Wind über den Julensee.

 

Aber das ist natürlich noch nicht alles. Aber alles wird hier auch nicht verraten. Denn Spannung entsteht vor allem aus dem Wechselspiel von Andeutung und Verschweigen. Die wirklichen Tragödien finden nämlich im Kopf statt. Mit beidem weiß Silvio Huonder in seinem neuen Roman meisterhaft zu spielen. Zwar ist „Nah am Wasser“ sprachlich weniger dicht als seine Kurzgeschichten. Aber der Autor beweist hier um so überzeugender sein dramaturgisches Talent. Mit „absolutem Gespür“ für die Dynamik der Geschichte kontrastiert Huonder leise und intime Passagen mit dramatischen Episoden, montiert Handlungsfäden zu komplexen Szenarien, schneidet retardierende Momente dazwischen und wechselt, wie mühelos, zwischen den Innenansichten von Kindern und Erwachsenen. Huonder schreibt sich mit seinen Geschichten direkt in die Köpfe der Leser hinein. Er ist ein Magier des Kopf-Kinos und ein Künstler der Andeutung und des Verschweigens. Deshalb ist am Ende niemals alles gesagt. Denn nicht selten ist das Ende einer Tragödie der Anfang einer neuen.

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