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Schaffe eine menschliche Gestalt von Ton ...

Oleg Jurjew: Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise. Aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova. Suhkamp Verlag 2003. 277 Seiten.

Rheinischer Merkur (extra), Nr. 49, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 4. Dezember 2003, S. 6.

 

SATIRE Oleg Jurjew lässt in seiner furiosen Story den Prager Golem aufleben. Der Genosse aus Lehm.


Die Geschichte des neuen Romans von Oleg Jurjew „Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise“ klingt haarsträubend: Ein Leningrader Schriftsteller hat die Chance, ein Stipendium im „Kulturbunker“ der fiktiven Stadt Judenschlucht an der deutsch-tschechischen Grenze zu ergattern. Das Angebot ist beinahe perfekt, denn in den dortigen Archiven kann er für seinen geplanten historischen Forschungsroman über die Aktivitäten der Sondergruppe SS „Bumerang“ recherchieren. Allerdings nur fast perfekt, da die Förderung laut Quote ausschließlich Frauen vorbehalten ist. Ein Rasierapparat, einige Frauenkleider und ein Haarband sind die Lösung: Als stumme Stipendiatin reist der Literat ins Erzgebirge, um dort der Sondergruppe und ihrer Aufgabe, der Entwicklung einer Geheimwaffe auf Basis der Golem-Legenden von der Belebung toter Materie, auf die Spur zu kommen. Nach der altjüdischen Golem-Sage soll sich im 17. Jahrhundert der Prager Rabbi Löw nach verlorengegangenen Anweisungen der Kaballa aus einem Lehmklumpen einen künstlichen Menschen – den Golem – als Diener geschaffen haben. Die „Mann-Frau“ wird in einer Turm-Wohnung mit Blick auf Rathausplatz, Kastanie und Stadtschloss einquartiert und beobachtet mit dem Fernglas vom Fenster aus das Judenschluchter Geschehen. Dabei wird er Zeuge eines großen Ereignisses: Von Karel Gott musikalisch begleitet, fliegt ein internationaler Staatsmann ein, dessen Identität – wie in einem Vexierbild springt die Szenerie von Antike über das Dritte Reich bis zum Jahr 1993 – zwischen Cäsar, Hitler und dem amerikanischen Präsidenten changiert. Ansonsten treibt er seine Forschungsaktivitäten im Archiv voran; tatkräftig unterstützt von der wohlbeleibten, fröhlichen Bibliothekarin Irmgard, einer Blondine, die ihn mit lockerem Jargon von Frau zu Frau unterhält. Bei den Recherchen stößt er auch auf den kriegerischen Stamm des als ethnische Mindertheit verfolgten jüdischen Turkvolks der Chasaren, von dem er selbst abzustammen scheint. Zweimal wird der Aufenthalt unterbrochen. Durch eine Station in Leningrad, von wo er mit seiner längst verstorbenen, von russischen Sprüchen und Ammenweisheiten sprudelnden Oma Katja nach Strelna zur Familien-Datscha ans Meer fährt, um dort auf dem Dachboden nach dem Golem-Tonklumpen zu suchen. Eine weitere Station ist New York, wo er seine Eltern besucht und sich, immer wieder auf seinen chamäleonhaft sich verwandelnden Doppelgänger Julien Goldstein treffend, im Straßendschungel verirrt. In der Bibliothek der Witwe-Goddes-Foundation begegnet er schließlich einer ehemaliger Studienkollegin, der attraktiven dunkelhäutigen Schekla aus Adis Abeba. Eine erotische Begegnung, die nicht ohne Folgen bleibt: Sie wird schwanger und beschafft ihm am Ende ein Anschluss-Stipendium in New York.

Was bei dieser haarsträubenden Geschichte kaum vorstellbar ist: Handlungsführung und fiktiver Zeitplan des Romans gehorchen den Gesetzen einer höchst kunstvollen Komposition, die sich an an kabbalistischer Zahlenmystik zu orientieren scheint. In genau 33 Abschnitten aus drei Einführungen und fünf Satiren mit je sechs Kapiteln springt der Zeitlauf – gleichsam Bezug nehmend auf die eingangs erwähnten beiden Uhren am jüdischen Rathaus des Prager Gettos, von der eine nach links und eine nach rechts geht –  mal zurück, mal nach vorne. Zwischen der geografischen Achse Leningrad im April 1993 und New York im August 1993 wählt der Autor als exemplarischen Standort in der Mitte Europas Judenschlucht, wo sich die Hauptfigur von Dezember 1992 bis Dezember 1993 aufhält. Der geografischen Dreiteilung entspricht die zeitliche Aufgliederung des Jahreszeitraums in dreimal vier Monate. In dieser literarischen Kartografie ist der Besuch des jüdischen Friedhofs in Prag im Dezember 1992 gleichsam der zeitliche und räumliche Nullpunkt, das schwarze Loch, um das sich mit hoher Dynamik die scheinbar entfesselte zeitliche und räumliche Energie dreht.

Motivisch orientiert sich die Erzählung frappierend eng an Gustav Meyrinks im Jahre 1915 erschienenen Roman „Der Golem“. Wie eine musikalische Variation zitiert Jurjew zahlreiche Motive wie das des Doppelgängers, der Golem-Legende von Rabbi Löw und dem Turm, zu dem unterirdische Gänge des Gettos führen und in dem die Hauptfigur auf den Golem trifft. Aufgegriffen wird auch das Thema der Identitätsspaltung, die tiefenpsychologisch deutbaren Traum-Zeit-Sprünge, die phantastisch-surrealen Szenarien und kabbalistisch-mystischen Elemente und natürlich nicht zuletzt der Ort der Handlung, das Prager Getto mit seinem skurrilen Figurenrepertoire. Jurjew spielt, ironisch augenzwinkernd mit unendlich vielen weiteren literarischen und kunstgeschichtlichen Anspielungen und Zitaten, die unter anderem auf Michail Bulgakows „Meister und Margarita“ („Hausmeister und Hausmargarita“), Goethes Faust („Der Geist, der stets das Gute will und stets das Gute schafft“, „Hermann und Dorothejewa“), Kafka („Amerika“ und das kafkaeske Schloss mit Hausmeister Josef Ton und seine Tochter Mařenka) und E.T.A. Hoffmann (das Motiv des nie scharf stellbaren Fernrohrs, auch als „Okular“ bezeichnet) oder Marc Chagall (Oma Katja fliegt durch das Fenster davon) verweisen.

Sprachlich arbeitet Jurjew mit unterschiedlichsten Sprachstilen und –tonlagen: Er wechselt in traditioneller Erzählweise gestaltete Passagen mit abstrus kauderwelschiger Sprache, mit altertümlichen Formulierungen durchsetzte hochtonige Abschnitte mit ordinärem Jargon oder verdreht und wendet Sprachkonventionen und stellt die Sprache buchstäblich auf den Kopf. Für den Leser entsteht so ein seltsamer Effekt: Wie durch das Fernrohr, , mal scharf, mal unscharf, stellt sich die fiktive Welt einmal klar und realitätsnah, ein anderes Mal schemenhaft verzerrt dar. Denn die scheinbar realistischen Sequenzen werden immer wieder durch systematische Dekonstruktion von Realität in kaleidoskopische Bruchstücke durchbrochen. Ein Effekt, ähnlich der Szene im Turm, in der der Stipendiat die in gleichmäßigem Bildsprüngen vorbeiflimmernden Programme des ehemaligen DDR-Fernsehers „Stassfurt“ an sich vorbeirauschen lässt.

Der Roman ist der mutige Versuch einer geistigen Standortbestimmung durch prozessuale, nämlich explizit nur im Zeitverlauf zu definierende, Rekonstruktion der jüdischen und biografischen Identität. Oleg Jurjew unternimmt das Projekt mit dem hochgesteckten poetischen Ziel, über die literarische Reflexion von Zeit und Raum eine detailgenaue Kartografie der tiefenpsychologischen, historischen, kultur- und geistesgeschichtlichen Landkarte des jüdischen Genotyp und individuellen Phänotyp nachzuzeichnen. Ein gewagtes Unternehmen, beinahe vergleichbar mit der Belebung toter Materie zum neuen Golem, und ein hochintelligentes, ambitioniertes Buch, das viel Mut zum sprachlichen Experiment mit Wahrnehmung und Bewusstsein beweist. In seiner Komplexität allerdings keine ganz leichte Lektüre.

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