Der Mensch reist immer vor sich her
Eugenie Kain: Schneckenkönig. Erzählungen. Salzburg, Wien: Otto Müller, 2009. 134 S.; geb.;
Erschienen in Literatur und Kritik / Mai 2009
Unter dem Asphalt fließt der Füchselbach und unter dem Pflaster liegt der Tod. Hinter den Wohnblöcken, den gelben Nebeln des Chemieparks und den weißen Dampfwolken des Stahlwerks schwimmen die Träume vom besseren Anderswo mit den Donauschiffen bis zum Schwarzen Meer, fliegen mit den Zugvögeln Richtung Süden. Die Wohnungen der Menschen, die im Linzer Hafen, im Schlachthof und in den Kühlhäusern der Stadt arbeiten, liegen zwischen Lärmschutzwänden und Tiefgaragen. Ihnen fühlt Eugenie Kain in ihrem neuen Erzählband den Sehnsuchtspuls. Kain macht sich zum Anwalt der seelisch Obdachlosen. Die Autorin gibt denen, die in der Literatur sonst kaum eine Rolle spielen, in ihren Erzählungen eine eigene Stimme.
Meist sind es Frauen, krank nach anderen Horizonten, deren Lebensträume zwischen Kinderwagen, Fabrikarbeit, Sockenschublade und Einmachgläsern ersticken. „Wir sind immer die Betrogenen“, sagt die Großmutter in der Titelgeschichte. Ihr Enkel ist Kind ihrer Sehnsüchte. Unter ihrem Rock lauscht er heimlich den Gesprächen der Erwachsenen. Er will Lastwagenfahrer werden wie die Liebhaber seiner Mutter oder Lokführer wie Großmutters Geliebter, der Nachbar mit dem rotblonden lockigen Haar. Auch der Enkel ist, zu Großvaters Schande, rotgelockt. Von klein an gehört er nicht dazu. Er ist anders und lebt bald nur noch für seinen extravaganten Traum: den Schneckenkönig für seine verstorbene Oma zu finden. Dieser fungiert als Chiffre für die Utopie vom gelungenen Anders-sein gegen alle Normen und Regeln. Völlig unbeeindruckt von Naturgesetzen schraubt sich der Schneckenkönig gegen den Uhrzeigersinn und wider jede Schwerkraft mit seinem braun-weißen Gehäuse in die Welt. Eine Welt, in der Schneckenforscher wie der Enkel nicht vorgesehen sind.
Denn hier ist es nicht erlaubt, seine Träume wahrzumachen. Auch deshalb nimmt der Familienvater in „Sehnsucht nach Tamanrasset“ es nicht ernst, als seine Frau ihm ankündigt, fortzugehen. Von einem auf den anderen Tag bricht sie aus ihrer kleinen Welt zwischen Milchsemmeln und Kindergarten aus und macht sich auf den Weg nach „Tamanrasset“ – Traum-Ort und Sehnsuchts-Wort in einem. In der Ferne will sie die Lieder und Lyrik der Tuareg-Frauen sammeln, ihre Poesie dokumentieren, bevor auch die Kultur dieses Volkes für immer erloschen ist. Wie die Figur aus der Erzählung „Unterwegs“ möchte sie Wörter und Geschichten aufschreiben, bevor sie verblassen, verstummen, sich auflösen im offenen Raum des Vergessens. So zum Beispiel das Wort „gerba“: ein Wasserschlauch aus Ziegenhaut, der von den Nomaden heute längst durch ausgebeulte Mobiloil-Kanister ersetzt wurde. Aus Büchern über die Sprache der Tuareg, von ihr zu Hause zurückgelassen, lernt auch ihr Kind schon früh, sein eigenes Sehnsuchtsvokabular zu buchstabieren.
Das Unfassbare beschreiben die Tuareg in Gleichnissen und Rätseln. „Der Mensch reist immer vor sich her“, ist eines davon. Es könnte ein Motto sein für Eugenie Kains Erzählungen. Denn sie alle handeln vom Reisen, all ihre Figuren sind unterwegs, und jeder will in eine andere Windrichtung. Angetrieben vom Unbegreiflichen, trägt jede von ihnen die Sehnsucht im Gepäck. Der „Wanderfisch“ aus der Erzählung „Schneckenkönig“ ist Sinnbild dieser Sehnsucht. Die Legende erzählt, ein Tagelöhner habe sonntags an der Donau gesessen, als der Strom vor ihm zu brodeln begann. Dann teilte sich das Wasser und ein riesiger, gut neun Meter langer Fisch sei aufgetaucht und habe ihn, auf seiner Schwanzflosse stehend, mit schwarzen Augen unverwandt angesehen. So plötzlich, wie er aus dem Wasser kam, sei er flossenschlagend wieder verschwunden. Der Fisch hatte eine Botschaft, sagte der Tagelöhner. Es war ein Wanderfisch, so der Großvater des Schneckenkönigs. Früher, vor den Kraftwerken, seien die bis hundert Jahre alten Riesenfische vom Schwarzen Meer bis nach Wien und noch weiter heraufgekommen. Auf der Suche nach dem Wanderfisch habe es ihn als Matrose bis ans Schwarze Meer getrieben. „Sanddünen, Nebel, Schaumkronen, hörte er den Großvater sagen, das Schwarze Meer ist weiß. Du stehst am Ende der Welt und weißt, dass es keine Wahrheit gibt.“
Neben dem Wanderfisch stehen auch die Zugvögel, Donauschiffe und der Schneckenkönig für die unstillbare Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt – genauso wie der Kirschbaum im Garten der Großmutter in der Erzählung „Das Leben ein Fest“. Das Bäumchen ist ihr Lebensmittelpunkt und Seelenoase der Familie. Jahrzehntelang trotzt Großmutters Lebensbaum mit seinen prächtigen weißen Blüten und leuchtend roten süßen Früchten dem um ihn herum wachsenden Beton. Bald sieht sie vom Küchenfenster aus nur noch einige Äste hinter den immer dichter werdenden Mauern. Später werden die Wohnungen verkauft, die Gärten verbaut und der Baum zusammengeschnitten. Mit dem Autobus fährt die Großmutter auch nach dem Umzug ins Seniorenstift so oft es geht hin, um nach ihm zu sehen. Zweimal blüht der Kirschbaum nicht: als Großmutter ins Altersheim geht und in dem Jahr, als sie stirbt. Für Obst- und Gemüsegärten mit Kohlrabi und Zwiebeln, Ribisel- und Stachelbeersträuchern ist zwischen Büros und Sonnenstudios kein Platz. Statt selbst eingemachter Bohnen speist man im Haubenlokal gleich neben dem übelriechenden Schlachthof. „C’est la vie“ steht über dem Eingang.
Vor dem sich ausbreitenden „Tod in den Städten“ flieht Rosa in „Just another city“ in das Brachland zwischen Autobahn, Lagerhallen und Hafen. Dort beobachtet sie Vögel und ihre Brutstätten. Hier an den Rändern der Stadt folgt sie in Gedanken den Zugvögeln, um der Enge der Häuser und der Angst vor dem nahen Sterben zu entgehen. An Deck eines Donauschiffs erkennt sie Mädi, die Angestellte des Tankschiffs, in den Armen eines rumänischen Matrosen. Von ihr handelt die erste Erzählung des Bandes. Hier in der letzten Geschichte taucht sie als Seelenverwandte Rosas wieder auf. Die Zeit läuft vorwärts und rückwärts zugleich. In der letzten Geschichte des Bandes sind die Liebenden noch nicht durch die Stromkilometer bis nach Rumänien getrennt. Hier ist ihre gestundete Liebe noch aktuell, während sie in der Anfangsgeschichte schon dem an die Donau verlorenen Geliebten den Flusslauf bis nach Tulcea hinterherträumt.
Dieser zeitliche Krebsgang hat in Eugenie Kains „Schneckenkönig“-Erzählungen System. Vergangenes und Zukünftiges, Gegenwärtiges und Erträumtes werden so ineinander verschränkt, dass eine neue poetische Wirklichkeit entsteht. Kains Schreiben ist beides: Erinnerungsarbeit und die Entwicklung einer Vision. „Nichts ist, wie es ist auf den ersten Blick, (…) immer gibt es Spuren“, wissen die mythischen Tiere in der Erzählung „Im roten Klang“. Deshalb führen die Spuren der Gegenwart über die Vergangenheit in die Zukunft und von dort wieder hinein in die Gegenwart. Das ist der Grund, warum die Autorin in ihren Erzählungen oft zwei Schritte vor und wieder einen zurückgeht. Im Krebsgang ändert sich die Perspektive. Mit ihr, hofft Kain, verändern wir uns. Für ihre Geschichten ist das manchmal ein wenig zu viel ideologische Last. Auch wenn sie versuchen, möglichst nah an den Menschen und ihren Lebensumständen zu sein. Am stärksten ächzen Erzählungen wie die über die Arbeiterbewegung mit dem Titel „Im roten Klang“ unter dem utopischen Ballast. Am überzeugendsten vermittelt sich ein Gespür für die Kraft der Utopie gerade in den unscheinbaren Bildern: der Kirschbaum im Betonmeer der Stadt Linz; oder die Liebeszene in der nach Diesel riechenden Tanker-Kajüte neben Bohnensuppe und billigem Vodka. Denn ihre Energie entwickeln die Erzählungen genau aus diesem Kontrast zwischen der Enge und Perspektivlosigkeit der Lebenssituation und dem soghaften Sehnsuchstrom Richtung Süden.