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Der Tod ist ein mühseliges Geschäft

 

Vea Kaiser: Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019. 432 Seiten.
Rezension vom 11.03.2019 im literaturhaus.at
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Man muss seine Toten pflegen. Damit sie den Lebenden wohlgesonnen bleiben. Manchmal muss man ihnen sogar einen letzten Liebesdienst erweisen. So dass die Geister der Toten zur Ruhe kommen und Gegenwart und Vergangenheit sich versöhnen können. Das hatte Lorenz von seiner Freundin, der Alt-Philologin Stephi gelernt. Wenn Manen mahnen hieß Stephis Dissertation über die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten in der römischen Literatur. Sorgten die Lebenden nicht für eine Bestattung gemäß den Wünschen der Verstorbenen, verfolgten die Toten sie bis in den Schlaf. Wie der verstorbene Patroklos seinen besten Freund Achill im vorletzten Gesang der Ilias, erinnerte sich Lorenz.

 

Dass er selbst jemals in die Verlegenheit kommen würde, einem nahen Verstorbenen einen solchen Dienst post mortem zu erweisen, hätte Lorenz nie für möglich gehalten. Schließlich lebte er nicht in der klassischen Antike, sondern im Wien des 21. Jahrhunderts. Und Lorenz fühlte sich nicht gerade als antiker Held. Im Gegenteil: Er war an seinem bisherigen persönlichen und beruflichen Tiefpunkt angelangt. Stephi hatte ihn für einen anderen verlassen, sein einziges Engagement als Schauspieler war geplatzt, er war pleite. Auf der Flucht vor seinen Gläubigern musste er sogar aus seiner Wohnung und zu Tante Hedi und Onkel Willi ziehen.

 

Dort findet Lorenz allerdings auch nicht die erhoffte Ruhe. Denn eines Tages liegt Onkel Willi tot in seinem Bett. Und Hedi und ihre Schwestern Wetti und Mirl bitten Lorenz um Hilfe. Willi wollte in seiner Heimat Montenegro begraben werden, doch eine Überführung könne man sich nicht leisten. Deshalb soll Lorenz die Leiche in Willis altem Panda zum Familiengrab fahren, bittet Hedi. Selbstverständlich führen sie alle drei mit. "Niemand wird zurückgelassen", erinnern die Tanten ihren Enkel an den Wahlspruch der Familie Prischinger.

 

Den Leichnam könne man vorher in der Kühlkammer von Mirls Verehrer, dem benachbarten Fleischer Ferdinand, einfrieren, schlagen die praktisch veranlagten Schwestern kurzerhand vor und machen sich gleich ans Packen. Natürlich nicht, ohne überreichlich Proviant mitzunehmen. Mit dem die drei Tupper-Königinnen mit ihrem Faible für Kümmel, Knoblauch und Frittiertes auf der 1029 km langen Reise nicht nur wunderbar sich selbst versorgen können. Auch diverse Grenzbeamte werden damit von ihnen bestochen. Lorenz hält sich derweil mit Energy Drinks wach, die er im Fußraum des langsam auf dem Beifahrersitz auftauenden Onkels aufbewahrt. Das skurrile Road-Movie mit den drei Schwestern in Pelzmänteln auf der Rückbank führt aber nicht nur zurück in Willis Vergangenheit, sondern auch in die der Familie Prischinger. Denn wie die Herkunft des Onkels, der eigentlich Koviljo Markovic heißt, umgibt auch ihre Familiengeschichte ein Geheimnis. Die Reise wird zum Rückwärtswalzer der Erinnerungen und bringt Verborgenes – aus dem Leben der fünf Kinder auf einem niederösterreichischen Bauernhof und der Kindheit eines Jungen zwischen den Weißen Bergen und dem montenegrinischen Meer – ans Licht: adelige Bärenforscher und kleine Brüder mit der Leidenschaft für riskante Zirkuskunststücke, unbekannte Väter und rothaarige Blutsschwestern, tragische Unglücksfälle und schicksalshafte Begegnungen. Erst mit der Bestattung Willis scheint die Vergangenheit in der Gegenwart angekommen zu sein: Die Toten geben die Lebenden frei.

 

Dass John Irving zu Vea Kaisers Lieblingsautoren zählt, merkt man auch ihrem neuen Roman "Rückwärtswalzer oder die Manen der Familie Prischinger" deutlich an. Nicht nur der Handlungsraum der skurrilen Großfamilie Prischinger, auch Motive wie die Zirkusleidenschaft, wilde Bären sowie schicksalhafte Liebesbegegnungen zwischen Krankenschwestern und Patienten kommen einem beim Lesen irgendwie bekannt vor. Zudem erinnert die Mischung von heiteren Szenen, lustigen Dialogen und verrückten Figuren mit tragischen Schicksalsschlägen und Kritik an gesellschaftlichen Normen sowie traditionellen Geschlechter-Rollen an Irvings Werke. Irvings literarisches Erfolgsrezept verfehlt auch in Vea Kaisers neuem Roman seine Wirkung nicht. "Rückwärtswalzer" ist eine erzähltechnisch spannend konstruierte Geschichte, die amüsant geschrieben ist und sich leicht liest. Für manchen Geschmack vielleicht etwas zu leicht. "Rückwärtswalzer" schmeckt ein bisschen nach Gummibärchen-und-Chips-Prosa. Es ist für jede(n) etwas dabei: 'was Süßes, 'was Saures und 'was Salziges. Alle mögen es. Am Ende macht es aber keinen wirklich satt.

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