Lukas Kollmer: Schlächtervergessen.
Wien: Literaturverlag Luftschacht, 2005. 100 S.; brosch.;
Rezension vom 29.11.2005 im literaturhaus.at
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"... Jetzt!" - oder Das Ende ist erst der Anfang ...
Gott existiert. Denn ein vollkommenes Wesen zu denken sei der unvollkommene Mensch von sich aus nicht imstande. Ein Gottesbeweis, der jeden weltlichen Beleg ausschließt und somit auch jeden Gegenbeweis. Ergo: auch der Teufel existiert. Und "der Teufel bin ich", so stellt sich Malice in der Schlüsselszene von Lukas Kollmers "Schlächtervergessen" vor.
Als Billeteur hatte der teuflische Malice den Ich-Erzähler, der sich Zarathustras Sohn nennt, auf die Kinogalerie geführt. Bis Zarathustras Sohn ihm nicht mehr folgen kann, als er zum anderen Ende des Raumes über einen siebzig Zentimeter breiten Steg mindestens sieben Meter über dem Boden des Saales gehen soll. Seinen Versuch beendet er vorzeitig. Panik und Faszination vor dem Abgrund treiben ihn auf die Galerie zurück, wo er die Erlösung von der Angst genießt. Und wo er feststellen muss, dass die Leinwand dunkel bleibt. Der teuflische Billeteur bestätigt, "dass es hier niemals eine Vorstellung geben wird, oder, besser gesagt: dass Sie die Vorstellung mittragen". Eine durchaus kafkaeske Szene. Nicht zufällig in der Mitte des schmalen Bandes.
Die Erkenntniss markiert eine Wende in der Rolle des Ich-Erzählers, den es auf einer Mittelmeerreise in das Cine in Madrid verschlagen hat. Denn nach der Begegnung mit dem leibhaftigen Bösen wird er vom Zuschauer zum Akteur und vom Opfer zum Täter. Auf seiner Fahrt vom südfranzösischen Montpellier nach Spanien war er noch passiver Beobachter. Während der Bustour wird er Zeuge von im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehenden Ereignissen voller Blut, Schleim, Magensäfte, Kot und Urin. Touristen machen sich in einem Anfall von Kannibalismus über Gepäckdiebe her. Und während einer Rast zerfließen die Gesichter der Busreisenden im Regen. Die falsch wieder zusammengesetzten Einzelteile ergeben ein Einheitsprofil. In Madrid erwartet Zarathustras Sohn schließlich eine "Möglicherweisefamilie", die ihn buchstäblich bis aufs Blut foltert.
Surreal, grotesk und drastisch körperlich sind die unmenschlichen Erlebnisse, denen er wehrlos ausgesetzt ist, bis er im Kino vor der schwarzen Leinwand zum Akteur und danach selbst zum Täter wird. Wie der Leibhaftige schändet er in einer Kathedrale in Toledo eine Heilige. Und Malice macht ihn mit der bösen Seite seiner Seele bekannt: personifiziert in einem ekligen zangenbewehrten Tier. Sein Versuch, es zu töten, bleibt vergeblich. Wie Malice wird er zum "Schlächtervergessenen". Einem zum Leben verdammten Todgeweihten, der "jenseits von Gut und Böse" lebt, weil er nichts mehr zu verlieren hat.
Ein wahrhaft höllisches Inferno, das sich hier darbietet. Ein Panoptikum der Schrecklichkeiten und Perversitäten, das an Hieronymus Boschs Darstellung der Hölle und des Letzten Gerichts denken lässt. Insgesamt ein mehr als düsteres Panorama. Wäre da nicht noch das unscheinbare "Und" des vorletzten Kapitels, das die Geschichte vom Tod des Vaters einleitet. Eine im Kontrast zu der im Nebenraum stattfindenden ausschweifenden Orgie um so rührendere Szene. Zarathustras Sohn weiß, dass er sein sterbendes Alter Ego nicht mehr wiedersehen wird. Der Greis jedoch verabschiedet sich lächelnd mit den Worten: "Nun dann ... bis zum nächsten Mal." Und auch die Orgienteilnehmer rufen verschwindend: "wir kommen wieder, wir kommen wieder ..." Ein Echo, das nachhallt.
Bis zum Schlusskapitel, wo Zarathustras Sohn fragt, ob wir es ertragen können, wenn alles immer nur kleiner und kleiner wird. Ein Kapitel, auf dessen Rückseite dem Leser noch jemand aus dem Off "... Jetzt!" zuruft. Eine direkter Bezug zur Überschrift des ersten Kapitels: "Wenn ich Jetzt! rufe, dann erst fangt zu lesen an". Auch wenn der Leser das nach all den monströsen Ausschweifungen und Brutalitäten von "Schlächtervergessen" kaum glauben mag: Das Ende ist also erst der Anfang.
Die Heterogenität von "Schlächtervergessen" ist seine Stärke und zugleich seine Schwäche. Zeigt sie doch einerseits die Vielfalt von Kollmers Erzählpotential und Sprachvermögen. Andererseits wirkt der Text in seiner Splitterhaftigkeit insgesamt zu brüchig. Kaum haben Passagen die Neugier des Lesers geweckt, werden sie auch schon durch komplett wechselnde Sequenzen abgelöst. Das gezielte Brechen von Erwartungen und die Kontrastierung des prophetisch raunenden Zarathustra-Duktus durch krasse, drastische Körperlichkeit funktioniert nur bedingt. Seltsamerweise bleiben nämlich nicht die provokanten Episoden im Gedächtnis haften, sondern eher Szenen wie die Nature-Morte-Geschichte zu Beginn der Erzählung, die kafkaeske Kino-Passage, die surreale Impression der toten Maria zu Füßen der Berge von Toledo oder die Sterbeszene am Schluss.
Lukas Kollmer hat mit "Schlächtervergessen" eine eigenwillige Erzählung ganz in der Tradition von Nietzsches Zarathustra geschrieben. Eine krude Mischung aus respektloser Daseinskritik, krasser Körperlichkeit, monumentalem Exhibitionismus, metaphysischer Geschmacklosigkeit und Momenten von Poesie und philosophischer Tiefe. Ein Buch, das verwirrt, aber auch neugierig macht auf die nächsten Texte Kollmers.