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O sancta simplicitas!

Helmut Krausser: UC. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. ISBN 3-498-03511-8, 479 Seiten,
Rheinischer Merkur, Nr. 19, Rubrik: Literatur, Donnerstag, 8. Mai 2003, S. 22.

 

ROMAN / Mit "UC" erkundet Helmut Krausser die Grenzen von Fiktion und Erinnerung. Ouvertüre des Endes.

 

Wo sollen wir mit den Betrachtungen über den neuen Roman „UC“ von Helmut Krausser starten? Beginnen wir mit dem Anfang. Denn: „Irgendwo muß man anfangen. Es ist leicht. Irgendwann, mit irgendwas. Man kann den Anfang später streichen, wenn sich die Geschichte erklärt hat.“ Dieser Beginn ist programmatisch. Er ist nur eine der denkbaren Anfangs-Varianten, eine Skizze; die Gültigkeit zeitlich begrenzt.

 

Es ist der Auftakt einer literarischen „Relativitätstheorie“. Eröffnung einer erzählerischen Spurensuche nach der Wahrheit auf der Schwelle zum Tod. Im Zeichen des Ultrachronos. Dem raum-zeit-losen Zeitraum des UC. Das ganze Leben zieht vorbei wie ein Film. Der Anfang aus der Perspektive des Endes. Eine ultimative Verschiebung der Sichtweise. Denn, so Thomas Bernhard, im Angesicht des Todes „ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich“. Der Anfang von „UC“, eine Ouvertüre mit Blick auf den allerletzten Schlussakkord.

 

„Fangen wir an mit dem Ende.“ Die Hauptfigur des Romans steht am Beginn vor dem Abgrund. Im sekundenlangen Sturz in den Tod wird die Zeit zurückgespult und das Erlebte in Zeitlupe wiederholt. Wer ist diese Person? Wie verläuft ihre Geschichte?

 

Zunächst die Fakten: „Arndt Hermannstein. Dirigent. Alter: 39 Jahre. Verheiratet. Name der Gattin: Laura Hermannstein-Feuer: Nationalität: Deutsch. Wohnort. Aguillera, Italien. Versichert: Privat. 182 cm, 80 kg. Haarfarbe: Dunkelbraun. Farbe der Augen: Braun-grün.“ Soweit die Tatsachen. Scheinbar unzweifelhaft. Aber, so warnt der einleitend zitierte Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“: „O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch!“

 

Wer also ist Arndt Hermannstein wirklich? Fragen wir ihn selbst: Ich „bin einer der vielversprechendsten Dirigenten Europas.“ „Ich bin ein Erfolgsmensch. Und ich werde international wegen eines Mordes gesucht, der vielleicht niemals begangen worden ist.“ Oder aus der Perspektive der Medien: „Hermannstein gilt als talentierter und aufstrebender, aber auch umstrittener, streitbarer und provokanter Künstler, der aus seinen erotomanen Eskapaden keinen Hehl macht.“ Und „Was hat Arndt Hermannstein zu verbergen?“

 

Machen wir den Versuch, die Handlung zu rekapitulieren: Ausgangsort ist London. Als erfolgreicher Dirigent wegen einer seiner zahlreichen Eskapaden gescheitert, flieht Hermannstein vor den Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Mordfall an der Schulbekanntschaft Marita Schumacher, mit dem man ihn in Verbindung bringt. Auf seiner Flucht vor der Vergangenheit, die gleichzeitig eine Suche nach der verlorenen Erinnerung ist, wird er immer wieder mit Figuren aus seiner Lebensgeschichte konfrontiert.

 

Es sind nicht zufällig überwiegend Frauen, mit denen Arndt eine frühere Affäre verbindet. Sie fungieren als Vehikel zur Erkundung der eigenen Herkunft und zur Erinnerung an das Verdrängte, denn, so der Protagonist, Sex ist „ die tragfähigste von vielen Eselsbrücken in die Vergangenheit“.

 

Skizzieren wir einige Stationen seiner Flucht. Seine Reise führt ihn unter anderem nach München, der Stadt seiner Jugend, wo er mit Schulfreunden zusammentrifft und mit dem Jahre zurückliegenden Tod Maritas konfrontiert wird. „Die Erinnerung kommt, wie ein Fenster auffliegt im Sturm.“ Eine Jugenliebe sticht aus den zahlreichen pubertären Liebschaften heraus: Mit Julia, Ala genannt, verbindet ihn mehr als eine vorübergehende sexuelle Leidenschaft: die poetische Intensität gemeinsamer Erlebnisse. Arndt entschließt sich, mit Ex-Schulfreundin Anne nach Paris zu fliehen, wo die gegenseitige Zuneigung Arndts Liebe zu sich selbst ermöglicht und ihn gleichzeitig wieder von Anne trennt. Mehrmals macht Arndt Station in Berlin, dem Ort seiner letzten Liebesaffäre mit der spurlos verschwundenen Studentin Claudia. Ein weiterer Mordfall, der Arndt in Verdacht bringt. Zwischendurch trifft in Rom und Gran Canaria Hermannstein auf seine Frau Laura, mit der er in Scheidung lebt.

 

Scheinbar aus dem Nichts tritt der Schriftsteller Sam Kurthes mit Arndt in Kontakt, um ihn im Zusammenhang mit der Recherche für seinen neuen Roman zu befragen. Der geplante Roman erweist sich im Verlauf der Erzählung als mit dem gerade Erzählten synchron. Es ist ein Roman über Hermannstein, die Wiedergabe seines Todeserlebnisses, der Ultrachronos. Die handelnde Person Arndt Hermannstein wird zur fiktiven Figur, Sam Kurthes zu ihrem Autor. Kurthes ist Arndts Erfinder und zugleich sein „Alter Ego“. Wen wundert es, dass er ausgerechnet mit der Frau zusammenlebt, die Hermannstein immer noch begehrt: Julia. Und nicht genug der Mehrdeutigkeit: Ala verkörpert in ihrer übersinnlichen Schönheit die Poesie, die Autor und Romanfigur zugleich verbindet und trennt.

Und Krausser geht in seinem Willen, die N-Dimensionalität des Romans bis an die Grenzen des Denkbaren auszureizen, noch eine Metaebene weiter. Meister und Guru Sam Kurthes, alias Arndt Hermannstein, als Handelnder Katalysator des Geschehens und als Autor „Kopf“ des Romans, setzt in einem über vierzigseitigen philosophischen Traktat, das in einem „poetischen Modell“ gipfelt, noch eine theoretische Reflexion, unterbrochen von Sequenzen eines ebenso bedeutsamen Schatten-Märchens von Andersen,  oben drauf.

Aber wer ist nun Arndt Hermannstein, und was hat er eigentlich wirklich getan? Hat er Marita S. im sexuellen Rausch ermordet? Ist er auch der Mörder von Claudia, deren Leiche in seinem Berliner Boot gefunden wurde? Was ist mit Julia? Er traf sie zuletzt in einer Bauwagen-Siedlung in Berlin mit ihrem Kind. Und was ist mit Arndt in Kreta geschehen? Ist er tot? Wurde er ermordet?

Die kaleidoskopartig zerbrochene, oszillierende Parallelität verschiedener zerteilter Räume, Zeitsplitter und Handlungsstränge erlaubt keine letztgültigen Antworten. Krausser lässt den Leser in die Irre laufen, indem er immer wieder verschiedene Versionen anbietet, mit vergangenen und möglichen, denkbaren und erfundenen Alternativen mischt. Zeit und Raum werden seziert, neu zusammengesetzt, wieder zerbrochen, bis eine kubistisch verfremdete Welt entsteht, die durch Risse und Spalten den Blick auf das Dazwischen und Dahinter ermöglichen soll. Auch die personale Identität wird aufgelöst für eine multifokale Perspektive, die keine Orientierung mehr erlaubt, die Kontinuität des Ichs und die Identität des Subjekts als Konstruktion, ja Imagination, entlarvt.

 

Vieles in „UC“ weist auf Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ hin, in dem es unter anderem heißt: „von jeder stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt , in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann.“ Es „bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten“; genügt „es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen“? Und schließlich: „Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -, nicht eine Fiktion sein?“

 

Helmut Krausser entwickelt in „UC“ im Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit „Stufen der Scheinbarkeit“ und reizt dafür die sprachlichen Möglichkeiten bis an die Grenze des Formulierbaren aus. Aber gestaltet er damit wirklich eine fiktive Welt, „die uns etwas angeht“? Bringt der in hypertrophem Impetus unternommene literarisch-philosophische Parforceritt den Leser auch nur einen Jota weiter? Kreiert Krausser nicht vielmehr nahezu unerträgliche pseudo-prämortale Denkorgasmen und die Schädeldecke sprengende Sprachexplosionen, um in aggressiver Verzweiflung am Ende vergeblich auf die postmoderne Leere einzuprügeln?

 

„O santa simplicitas!“ Wir können die Lektüre jedenfalls nicht bedenkenlos empfehlen, ohne nachdrücklich auf schwere Nebenwirkungen hinzuweisen. Denn die paralysierende Kopfprosa Kraussers verursacht chronische Schwindelgefühle und ist auch für immunstarke Leser nur in geringen Dosierungen genießbar.

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