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Krass, krasser, typisch Krausser!

Helmut Krausser: Verstand und Kürzungen. Dumont Verlag 2014. 224 Seiten.
Sendung vom 12.02.2015 im Deutschlandfunk, Moderation Hubert Winkels
http://www.deutschlandfunk.de/helmut-kraussers-verstand-und-kuerzungen-krass-krasser.700.de.html?dram:article_id=311532
Beitrag hören (Zitate gesprochen von Helmut Unkelbach, DLF-Sprecherensemble)

 

Der Schriftsteller, Bühnenautor und Komponist Helmut Krausser wurde 1964 in Esslingen geboren. Krausser war u.a. Spieler, Nachtwächter, Zeitungswerber, Opernstatist, Sänger in einer Rock`n`Roll-Band und Journalist. (Halb-)freiwillig verbrachte er ein Jahr als Berber. Nebenbei studierte er provinzialrömische Archäologie. Er lebt jetzt in Berlin und schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher, Übersetzungen und Musik. Seine Romane „Der große Bagarozy“ und „Fette Welt“ wurden fürs Kino verfilmt. 1993 erhielt er für „Melodien“ den Tukan-Preis der Stadt München. Im Wintersemester 2007/2008 hatte er die Poetikprofessur der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Drei Poetikvorlesungen kann man im Reise-Journal „Deutschlandreisen“ nachlesen, das im Frühjahr dieses Jahres erschien. Jetzt ist sein neuer Gedichtband „Verstand & Kürzungen“ herausgekommen.


Ausgerechnet Sonette. In der Literaturszene gilt Helmut Krausser als „wild boy“. Die Hauptfiguren seiner Romane: latente Amokläufer und Komasäufer mit wahnhaft gespaltener Identität. Kraussers Leitmotive: Leidenschaft, Sex und Tod. Doch zwischen seinen Romanen von eskalierender Komplexität: immer wieder kleine Lyrikbände. Meist konventionelle Gedichte. Oft mit Reim. Und sehr oft: Sonette. Die strengste Form europäischer Versdichtung. Lyrik in hohem Ton. Auch sein neuer Gedichtband „Verstand & Kürzungen“ ist voll davon. Etwa ein Drittel des Bandes enthält dreiunddreißig von Krausser ausgewählte und neu übersetzte Sonette Shakespeares. Sinnlich und derb erotisch einerseits, besingen sie die Liebe auch als transzendierende Kraft. Nah und weit genug entfernt von Shakespeares Original schärft Krausser seinen Blick für das Schreiben eigener Sonette; wie diesem:

die schönheit kommt aus übersee,
wie ein paket, mit dem man nicht
gerechnet hat, sie kommt als schnee
im frühling, als novemberlicht

auf rom, wenn über den ruinen
erste starenschwärme kreisen,
geht einher mit maskulinen
freudenschreien oder leisen

seufzern eines mädchens, das
sich vor dem spiegel mit der faust
befriedigt. schönheit ist verlangen

nach unendlichkeit von etwas,
schönheit wohnt nicht, schönheit haust,
und ist, erkannt, schon halb vergangen.

Sonette zu schreiben, so Helmut Krausser, bereite ihm jene große Freude, die er als Junge beim Lösen von Schachproblemen empfand. Krausser ist nicht nur hervorragender Schachspieler. Neben seinem Beruf als Schriftsteller komponiert er klassische Musik. Bei Musik wie Poesie treffen sich Intellekt und Emotion in der Harmonie der mathematisch strengen Form. In ihr wird der Gegensatz von Vernunft und Leidenschaft oder, wie der Titel des aktuellen Gedichtbandes es nennt, „Verstand & Kürzungen“ einige Verse oder Takte lang aufgehoben.
Die Zerrissenheit seiner dissoziierten Identitäten, Kraussers Hang zum Exzess, seine Inszenierung chronischen Größenwahns und der provokative Gestus sexueller Kraftmeierei finden sich auch in „Verstand & Kürzungen“. Aber in der buchstäblich verdichteten Poesie wirken sie doch vergleichsweise zahm gegenüber Kraussers Romanen. Der Rausch wird kunstvoll gebändigt, wie dieser Ausschnitt aus „Zwei Dithyramben“ zeigt:

Als eines von vielen prächtig
verschleuderten Feuern möchte ich
brennen, wunschlos dann leben.

Um mich her, ganz seltsam, tobt
noch immer meine, meine Zeit –
ich hab sie längst vorbeigewunken,
von ferne betrachtet, vergraut und passé.
Aber sie lebt, und auch ich will noch leben,
gönnt mir, bevor ihr mich ganz für euch habt,
im Bauch der Städte ein Tiefseegebrüll,
ein Rendezvous unterm Lichtkarussell,
schlanke Schatten von Mädchenhänden,
im Schnuppenregen des Stroboskops.

Hier lieg ich auf Knien, ungebeugt,
möchte mich wie ein Tierkind freuen
am Atem, an jeder Körperbewegung,
feiern, von Träumen und Pflichten befreit.
Blutdurchpumptes, schwitzendes Fleisch!
Irgendein stilvoller Abgang findet
dich notfalls im Schlaf. Laß dich gehen!
Heißt es nicht, Winter und Whisky versprächen
einen sanften, erträglichen Tod?

Neben neuen eigenen Gedichten und Kraussers Shakespeare-Übersetzungen enthält der Band auch Coverversionen bekannter Gedichte von Bertolt Brecht über Friedrich Hölderlin bis Goethe. Mal vorsichtige, mal brachiale Adaptionen der Lyrik-Klassiker mit Anmerkungen des Autors, die manchem wie mutwillige Selbstüberschätzung erscheinen mögen. Krass, krasser, typisch Krausser eben. Andere werden die Respektlosigkeit im Umgang mit den deutschen Dichter-Größen als erfrischend und befreiend empfinden.
Kraussers Respektlosigkeit macht schließlich auch vor der eigenen Kunst nicht Halt. Beim „Treffen der Anonymen Größten Lyriker aller Zeiten“ applaudiert er seinem eigenen Doppelgänger – als einziger. Gedichte schreiben ist für Krausser ein Spiel, ein Schachspiel gegen sich selbst. Die künstlerische Form sieht er als intellektuelle Herausforderung. Das erklärt auch die Heterogenität der Stile und Formate in „Verstand & Kürzungen“. In Kraussers „Neuen Gedichte“, den „Bonus-Gedichten“, einer Best-Off-Auswahl aus „Auf weißen Wüsten“ und in seiner „U-12-„ und „Ü-18-Abteilung“ finden sich neben formvollendeten Sonetten auch längere reimlose Gedichte oder kurze pointierte Sechszeiler. Bordellszenen stehen zärtlicher Liebeslyrik, derbe Flüche sanften und leisen Tönen gegenüber. Alltagserlebnisse wie existenzielle Themen werden mal im poetisch hohen Ton, mal im Gossenjargon, mal ernst, mal ironisch verhandelt. Das Leben ist eben, wie man’s nimmt, zum Lachen oder zum Heulen.

Die Möwen schreien oder lachen.
Niemand weiß das so genau.
Wohl nicht einmal die Vögel selbst.
Schreien oder Lachen – beides
ist ja selten ganz verkehrt.


„Verstand & Kürzungen“ wird nicht nur die „20.000 Krieger“, die Helmut Krausser im ersten Gedicht des Bandes im Lager seiner Feinde zählt, irritieren. Auch Fans seiner Romane werden „ihren Krausser“ nicht in allen Versen wiedererkennen. Für Lyrikfreunde hält der Band keine großen Überraschungen bereit. Dafür aber leicht lesbare, mal elegante, mal widerspenstige, aber immer hoch musikalisch komponierte Gedichte zum Sinnieren, Schmunzeln oder einfach nur zum Genießen.

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