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Gesammelte Kurzrezensionen

sämtlich erschienen im Rheinischen Merkur

Anastas Alem Azzopardi Braun Bodrožić Bolaño Byatt El caballero Carmelo Chaudhuri Chirbes Couson Djebar Duvanel Fleming Fox Franco Fuentes Gauß Gowdy Gropp Grünbein Gruenter Hough Huggins Kahlo Ivanauskaitė Karystiani Kettenbach Klüger Krausser Lederer Loher Makanin Millás Müller Oswald Padura Palmen Posadas Prieto Restrepo Rosei Rosenboom Rudiš Ruff Saramago Saura Sigurdardóttir Shteyngart Sprado Tahawi Verhaelen Vertlib Vila-Matas Visconti Wildenhain Zafon Zweitausendeins



Benjamin Anastas: Am Fuß des Gebirgs. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. Jung und Jung 2005. 471 Seiten.

Zauberberg am Grundlsee

Was, wenn der Held eines Entwicklungsromans die eigene Psychoanalyse gleich mitliefert? Dann läuft die Erzählung Gefahr, zur Schilderung eines lehrbuchhaften Falls zu werden. Dem entkommt auch der Roman "Am Fuß des Gebirgs" des jungen amerikanischen Autors Benjamin Anastas nicht. Nach Sigmund Freuds geistigem Entwicklungsschema vom Ei (reine Potenz) über die Larve (reiner Hunger) und Puppe (Reifung) bis zur Imago (der entwickelte Schmetterling) beschreibt er die Geschichte des Prager Juden Arno Singer 1931 bis 1938. Wie der naive Ingenieur Hans Castorp aus Thomas Manns Zauberberg begegnet der junge Techniker in der sanatoriums-ähnlichen Abgeschiedenheit des Sommerheims Seeblick am Grundlsee der Frau seines Le-bens: der Amerikanerin May. Liebesfähig wird er aber erst nach der Analyse durch Frau Ochs. Da seine Leidenschaft jedoch nur bedingt erwidert wird, flüchtet Arno in den Glauben an eine körperlos überzeitliche Liebe. Anastas vierhundertsiebzig Seiten starker Roman bleibt, obwohl gut erzählt und genau recherchiert, letztlich dünn, konstruiert und episodenhaft.

 


Kangni Alem: Coca Cola Jazz. Aus dem Französischen von Gudrun und Otto Honke. Peter Hammer Verlag 2004. 272 Seiten.

Heloise & Parisette

Der neu erschienene Roman „Coca Cola Jazz“ von Kangni Alem wurde bereits jetzt mit dem höchsten Literaturpreis für afrikanische Autoren, dem „Littéraire de L’Afrique noire“, ausgezeichnet. Der im französischen Exil lebende Autor erzählt die Geschichte von zwei Halbschwestern eines afrikanischen Vaters, die auf verschiedenen Kontinenten groß werden. Héloise, die bei ihrer extrentrischen Mutter in Frankreich aufwächst, bemüht sich vergeblich, etwas über ihren Vater zu erfahren. Einer unerwarteten Einladung des vor ihrer Geburt nach Afrika zurückgekehr-ten Vaters folgt sie daher sofort. In Togo trifft sie statt auf ihren Erzeuger auf ihre Stiefschwester Parisette. Héloise wird dort mit der fremden Kultur und der von Gewalt und sexuellem Missbrauch geprägten Lebensgeschichte ihrer Schwester konfrontiert. Eingebettet in Prolog und Epi-log lässt der „Erzähler ohne Eigenschaften“ die Heldinnen ihre Geschichte, „die vor Leben überbordet“, selbst berichten: In einer respektlosen, manchmal drastischen Sprache, die sich - nicht immer mit Erfolg - um Authentizität bemüht.

 

 

Trezza Azzopardi: Was ich nicht vergessen darf. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Berlin Verlag 2005. 317 Seiten.

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Ich war irgendjemand, niemand.

Die Sprache ist bedrückend einfach. Einfach, weil sie in klaren Sätzen spricht und Wörter benutzt, die jeder kennt. Einfach auch, weil sie in ihrer Schlichtheit unschuldig und verletzlich wirkt. Eine kindlich staunende Sprache mit unverstelltem Blick auf die Welt. Eine Welt, die von Anfang an eine feindliche Welt ist. Das ist es, was diese einfache Sprache so bedrückend macht. Es ist der unausgesprochene Schmerz, der mitschwingt. Ein Leiden, das viel zu groß ist für das Kind, das spricht. Und das seine Geschichte erzählt. Die Geschichte vom alten Kind, vom Mädchen Patricia, alias Lillian, später Winifred Foy. Der Lebenslauf einer fiktiven Figur, aber ent-standen nach dem Vorbild einer Obdachlosen aus Cardiff. „Was ich nicht vergessen darf“ ist der Titel des neuen Romans von Trezza Azzopardi, die bereits 2001 mit ihrem Debüt “Das Versteck“ große Aufmerksamkeit erregte.
Wie in ihrer ersten Veröffentlichung beschreibt sie eine Kindheit im Ausnahmezustand. Mit ihren feuerroten Haaren ist Patricia die geborene Außenseiterin. Sie hat von vorneherein verloren. Und sie wird noch mehr verlieren. Schließlich alles. Erst ihre nervenkranke Mutter. Nach ihrem Selbstmord lebt Pat beim Großvater, der sie wie ihre Mutter Lillian nennt. Ihr Leben besteht aus-schließlich aus Verboten. Erträglich nur durch Mr. Stadnik, der sich der „Prinzessin“ annimmt. Den Vater sieht sie immer seltener. Und als sie bei Kriegsausbruch mit Mr. Stadnik aufs Land zu Tante Ena zieht, gar nicht mehr. Nachdem auch Mr. Stadnik sie dort alleingelassen hat, findet sie in ihrer Liebe zu Joseph Dodd Halt und Hoffnung. Doch sie wird schwanger und von Tante Ena zurück in die Stadt geschickt. Bernard Foy holt sie von der Brücke und macht zusammen mit Assistentin Jean Patricias „Gabe“ zu Geld. Sie lassen sie als Winifred Foy als Geisterseherin auftreten. Und sorgen mit Hilfe des Schuhladenbesitzers und Engelmachers Mr. Hewitt für die Ab-treibung ihres Kindes. Schließlich wird sie von ihnen ins Bethel-Street-Haus, eine geschlossene Anstalt, gesteckt. Nach vierundzwanzig Jahren wird sie entlassen. Mit ihren Koffer landet sie auf der Straße. Als ihr dieser einzige Besitz, der all ihre Erinnerungen enthält, gestohlen wird, holt sie die Vergangenheit ein.
Das spiegelt sich auch in der Romankonstruktion. Von der Gegenwart ausgehend, werden die Erinnerungen hart in das aktuelle Geschehen montiert. Vorher- und Jetzt-Passagen so lange parallel geführt und angenähert, bis sie am Schluss zusammenlaufen. Mit einem ersten und zweiten Teil ist der Roman außerdem in ein Vorher und Nachher gegliedert. Der Bruch ist dort, wo Pat, zurück in der Stadt, ins Wasser gehen will. Und genau da ist auch ein erzählerischer Einschnitt. Während die Kindheitsgeschichte mit einer beklemmenden Authentizität überwältigt, wirkt der Bericht von der jungen Frau zunehmend konstruiert. Geister und Psychothriller-Elemente nehmen überhand. Wäre die Autorin, so wünscht sich der Leser nachher, doch nur beim „Vorher“ geblieben. Es wäre ein bestechend gutes Buch geworden.

 

 

Peter Braun: Dichterhäuser. dtv 2003, 224 Seiten.

Die literarische Hintertreppe


Ähnlich der „philosophischen Hintertreppe“ (Wilhelm Weischedel) nähert sich Peter Braun über Seitenwege dem Werk berühmter deutschsprachiger Dichter der beiden letzten Jahrhunderte. Mit dem Fokus auf das Menschliche geht er vom alltäglichen Umfeld der Literaten, der Einrichtung und Atmosphäre ihrer Dichterhäuser und der sie umgebenden Landschaft aus. Braun „verortet“ buchstäblich die dichtenden Persönlichkeiten, indem er sie als Kinder in ihren elterlichen Wohnräumen aufsucht oder sie in ihre Wahlheimat begleitet. Die literarische „tour des poètes“ führt den Leser über Anekdoten und biografische Notizen von Husum bis Montagnola und macht dabei an achtundzwanzig Orten Station. Man begegnet nicht nur berühmten Lebenswelten wie denen der Dichtergrößen Goethe und Schiller in Weimar, sondern blickt auch in das erstaunlich biedermeierliche Wohnambiente Bertolt Brechts in Berlin, durchwandert beim Lesen die malerischen Schweizer Gärten Hermann Hesses und stattet dem einsamen wasserumflossenen westfälischen Gräftenhof der Annette von Droste-Hülshoff nahe Münster einen Besuch ab. „Dichterhäuser“ regt zu literarischen Studienreisen an, die per Buch auch jederzeit bequem vom Sofa aus unternommen werden können.

 

 

Marica Bodrožić: Der Spieler der inneren Stunde. Suhrkamp 2005. 227 Seiten.

Ein Stein zum Abschied

Einen Stein schenkt ihr der serbische Junge Nebojša zum Abschied. Sie solle ihn auf ihrer Reise über die Grenze werfen. Denn dann “kannst du aufatmenn, denn dann ist schon etwas von dir dort, wohin du gehen wirst.“ Aber Jelena bleibt Deutschland fremd. Sie wünscht sich nichts mehr als neue Turnschuhe und: eine Busfahrkarte zurück nach Dalmation zu Großvater Nikolai. Zum Ort im karstigen Land hinter dem Meer, in das Dorf voller vertrauter Menschen, Dinge und Geschichten, das sie ab jetzt nur in den Ferien wiedersieht. Während der Großvater bei jeder Rückkehr weniger wird, nehmen Jelenas Erinnerungen von Abschied zu Abschied zu. Denn: Geschichten gehen nie verloren. Marica Bodrožić Roman „Der Spieler der inneren Stunde“ hinterlässt beim Leser Eindrücke von einer Intensität, wie sie sonst nur Träumen eigen ist. Das Erzählte trägt eine Wehmut, wie sie aus einem unüberwindbaren Gefühl der gleichzeitigen Nähe und Fremde gegenüber der Wirklichkeit entspringt. Und ihre Sprache birgt ein poetisches Potenzial mit der Tragkraft von Märchen, das über die Lektüre hinaus lange nachschwingt.

 

 

Roberto Bolaño: Telefongespräche. Deutsch von Christian Hansen. Hanser 2004. 235 Seiten.

Figuren ohne Schatten

Roberto Bolaños erzählt in „Telefongespräche“ vierzehn Kurzgeschichten über Liebe, Freundschaft, Mord und „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, die in Moskau, Madrid Nîmes oder seinem Heimatland Chile spielen. Befremdlich wie die seltsam zweidimensionalen Figuren ist auch ihr ansatzloses Erscheinen, die offenbar willkürlichen menschlichen Begegnungen und das ebenso urplötzliche Verschwinden der „Personen ohne Schatten“. Die Streuner, mittelmäßigen Schriftsteller, Pornodarsteller und unfreiwilligen Mörder kommen scheinbar aus dem Nichts und verschwinden genauso unmittelbar und rätselhaft wieder ins Nichts. Dem Provisori-schen der Persönlichkeiten entspricht der Entwurfs-Charakter des Erzählstils. Wie Skizzen für Geschichten wird die Idee für eine Erzählung mit groben Strichen angedeutet. Bolaños eigenwillige Art des Erzählens, die sich in Passagen auch klar konturiert verdichtet, pendelt zwischen Konstruktion und Dekonstruktion, zwischen Imagination und Verfremdung. Die durch den Charakter des Vorläufigen geprägten Geschichten bleiben daher allzuoft zu sehr „in der Schwebe“.

 

 

Antonia S. Byatt: Geschichte von Erde und Luft. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Insel 2003. 155 Seiten.

Kesselraum der Seele


Nach den im letzten Herbst unter dem Titel „Geschichten von Feuer und Eis“ herausgegebenen Kurzgeschichten von Antonia S. Byatt folgt nun der komplementäre Band mit fünf Erzählungen. Die „Geschichten von Erde und Luft“ atmen jedoch nicht den befreienden Duft der Elemente, sondern sind durchzogen von beklemmender Enge, Ängsten und der Omnipräsenz des Todes. Die britische Autorin zeigt sich in diesen Erzählungen als Spezialistin der suggestiven Darstellung von Innenräumen, in denen sich seelische Befindlichkeiten manifestieren. „Der Kesselraum“, ein geheimer Ort im Internats-Keller, in der sich eine Hauptfigur als Kind versteckt, erweist sich als paradigmatisch. Die hypersensiblen Protagonisten empfinden schmerzhaft ihre Nicht-Zugehörigkeit zur Welt, an der sie vergeblich teilzuhaben suchen und die sie zum autistischen Rückzug zwingt. Insbesondere da, wo diese Idiosynkrasien im Mittelpunkt stehen, entwickeln die Geschichten einen spezifischen Sog. Ein Buch vor allem für Leser mit Vorliebe für die zwiespältige Faszination der unerbittlich genauen Kartographie des Unterbewussten von literarischen Psychogrammen.

 

 

El caballero Carmelo, Der Held Carmelo. Erzählungen aus Südamerika. Hrsg. Kristof Wachinger. Dtv 2003. 203 Seiten.

¿Qué es la vida?

„Was ist das Leben?“ fragt José Félix Fuenmayor in einer Erzählung in dem neu erschienenen dtv-Band „El caballero Carmelo / Der Held Carmelo“. Die Sammlung enthält kurze Geschichten aus Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Chile, Argentinien und Uruguay in spa-nisch-deutschem Paralleldruck. Der Kolumbianer Fuenmayor, der mit Gabriel Garcia-Marquez Mitglied im literarischen Freundeskreis „Grupo de Barranquilla“ war, ist einer von zwölf südamerikani-schen Autoren des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts, deren Kurzgeschichten in dem Band zu finden sind. Das Buch, das einen Einblick in die literarische Vielfalt des südamerikanischen Kon-tinents gibt, eignet sich besonders für Spanisch-Lerner und Liebhaber südamerikanischer Literatur. Diese werden die sonnendurchglühte Atmosphäre mit vertrauten Requisiten wie Flussrad-dampfern, Krokodiljägern und Hahnenkampfarenen genießen. Auch wenn keine der Erzählungen, aus denen die von Jorge Luis Borges qualitativ herausragt, die Frage „¿Qué es la vida?“ abschließend beantworten kann.

 

 

Amit Chaudhuri: Betörungen & Fromme Lügen. Aus dem Englischen von Barbara Heller. Blessing 2005. 253 Seiten.

Die Kolonialisation entlässt ihre Kinder

Wir erwarten orientalische Exotik oder Berichte über das Elend der Slums, wenn wir Europäer an indische Literatur denken. Nichts davon enthalten die Erzählungen „Betörungen & fromme Lügen“ des indischstämmigen Amit Chaudhuri. Wie die Angehörigen der oberen Mittelschicht, von der die Geschichten handeln, ist er in Kalkutta und Bombay in einer völlig durchkolonialisierten Welt großgeworden und hat danach in London und Oxford studiert. Mit westlicher Musik, Kultur und Religion aufgewachsen, lebt und denkt diese Schicht ausschließlich in der englischen Sprache. Für die Kinder, die es schick finden, indische Begriffe ins Englische einzustreuen, wie für die Väter, die in internationalen Unternehmen arbeiten, sind die Elemente indischer Kultur zu sinnentleerten Versatzstücken geworden. Zwischen Geschäftsgesprächen und Soft Drinks wird sogar das Trauer-Ritual einer traditionellen „shraad“-Zeremonie entwertet. Leider schafft es der Autor in den Erzählungen nicht, seinen Anspruch einzulösen, banale Ereignisse zu schildern, „unter denen das Herz schlägt“.


Rafael Chirbes: Alte Freunde. Deutsch von Dagmar Ploetz. Kunstmann 2004. 237 Seiten.

„Hier encore“

„Die Revolution entlässt ihre Kinder“: in den freien Markt der Nach-Franko-Ära und die Mitte-Rechts-Regierung Spaniens unter José María Aznar. Und die ehemaligen Genossen im Kampf gegen den Faschismus  finden sich als Immobilienspekulanten, Medienfunktionäre und Händler edler Weine als dekadente Spießbürger wieder. Ein Treffen in einer gastronomisch gehobenen Lokalität in Madrid ist Anlass, die ganz persönlichen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit radikal auf Gültigkeit für die Gegenwart zu überprüfen. Im Reigen erzählen Rita, Amalia, Carlos, Pedrito und Demetrio die Geschichten von sich und ihren freunden Guzmán, Elisa, Ana, Narciso und anderen aus ihrer je eigenen Perspektive. Übrig geblieben sind fragile Lebensentwürfe resignierter 60jähriger, die sich zwischen einer von fragwürdigen Idealen und Enttäuschungen dominierten Vergangenheit und einer von Angst vor Krankheit und Tod bestimmten Zukunft bewegen. Nach „Der lange Marsch“ und „Der Fall von Madrid“ hat Rafael Chirbes mit „Alte Freunde“ die Trilogie abgeschlossen und ist, beginnend mit dem Ende des Bürgerkriegs über den Fall der Franko-Diktatur in der Gegenwart des Nachkriegs-Spaniens angekommen. Chirbes zieht hier das ernüchterte Fazit einer von Geld und Spießbürgertum kompromittierten Generation und geschei-terten kommunistischen Ideologie, das wohl durch schonungslose Ehrlichkeit, weniger aber durch sprachliche Dichte besticht. Leider fehlt auch die notwendige Portion Selbstironie, die der Abrechnung ihre Bitterkeit genommen hätte.

 


Joseph Couson: Abnehmender Mond. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Blessing 2005. 416 Seiten.

Amerikanische Familiensaga

Wer noch einmal in der Lektüre einer Familiensaga versinken möchte, für den ist „Abnehmender Mond“ genau das Richtige. Joseph Coulsons vierhundert Seiten langer Debütroman über eine amerikanische Proletarierfamilie schlägt von Anfang an einen beschwörenden Tonfall an, der sofort in die Geschichte hineinzieht. Indem im Erzählen Erinnerung lebendig und auf zukünftige Ereignisse vorausgedeutet wird, entsteht ein überzeitlicher Horizont mythologischer Dimension. Verstärkt dadurch, dass Coulson vier auktoriale Erzähler zu Wort kommen lässt, die aus unterschiedlicher Perspektive über drei Generationen berichten. Vor dem historischen Hintergrund der krisengeschüttelten zwanziger Jahre, über den Zweiten Weltkrieg bis zu Vietnam und Watergate wird das Schicksal der sechsköp-figen Familie verfolgt. Sterbende Bäume werfen den Schatten tragischer Ereignisse voraus. Kaum ein Drama wird ausgespart: Arbeitslosigkeit, Mord, Erblindung, Obdachlosigkeit, Armut, Missbrauch, Liebestragödien und Krieg. Zwar oft zu plakativ, raunend und metaphernschwanger, liest sich der Schmöker dennoch sehr gut.

 


Assia Djebar: Frau ohne Begräbnis. Übersetzung Beate Thill. Unionsverlag, Zürich 2003, 219 Seiten

Mosaik der Vogel-Frauen

Assia Djebar, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2000, erzählt die Geschichte der „Frau ohne Begräbnis“, Zoulikha, die im Kampf für die algerische Unabhängigkeit 1957 in die Berge flieht, von der Kolonialarmee gefasst wird und spurlos verschwindet. In dokumentarischer Absicht, aber mit der notwendigen künstlerischen Freiheit nähert sich die Autorin erzählerisch der Wahrheit über Leben und Tod der gebildeten und lebenslustigen Frau, die in Caesarea, der Kindheits-Stadt der Erzählerin, im Nachbarhaus gelebt hat. Djebar fügt in ihrem, nach dem Vorbild eines antiken Mosaiks mit Vogel-Frauen konstruierten, Roman Erzählungen der Töchter Zoulikhas, ihrer Tante Zohra Oudai und der Kartenlegerin Madame Lionnes kunstvoll zusammen. Die Erinnerungen verweben sich mit Monologen Zoulikhas, eingebettet in Vorspiel und Epilog, zu einem „Oratorium schwebender Stimmen“, das das tragische Schicksal der mutigen Algerierin besingt. Assia Djebar nähert sich über Umwege und Mäander den  Schatten der Vergangenheit, verknüpft virtuos verschiedene Erzählebenen, -medien und -perspektiven und macht mit ihrer sinnlichen, farbigen und musikalischen Sprache Zoulikha wieder lebendig.

 


Adelheid Duvanel: Beim Hute meiner Mutter. Kollektion Nagel & Kimche 2004. 176 Seiten.

Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein

„Prosaminiaturen“ nennt Herausgeber Peter von Matt die Erzählungen der Schweizer Autorin Adelheid Duvanel. Jetzt hat er unter dem Titel „Beim Hute meiner Mutter“ einige der in ihrer surrealen Dichte sehr eigenartigen kurzen Geschichten in einem Band zusammengestellt. Eigenartig sind sowohl die Figuren als auch ihre Tagträume: wie zum Beispiel Kaspars Mutter, deren roter Hut in den Himmel hinein fliegt und dort als blutroter Mond erlischt oder Emil Knacks und seine unglückliche Liebe zu Fräulein Lisa, Inhaberin einer Spezereiwarenhandlung oder der Grundbuchbeamte Arthur und seine Frau Cäcilie, die plötzlich mit einem Gipsengel durch die Luft schwebt oder der Hahn namens Eugen, der seinen Kamm für eine Krone hält und sich König nennt. Alle Figuren Duvanels sind körperlich und seelisch versehrt: Als einsame Geschöpfe hausen sie in Mietskasernen, und stolpern oder hinken, von der Fremdheit der Welt übermannt, hilflos umher und hängen ihren skurrilen Träumen nach. Der Eigenartigkeit der Figuren entspricht der eigentümliche Stil, mit der die Autorin „Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein“, schreibt: Sie malt ungewöhnliche Sprachbilder, indem sie die naiv-surrealen Märchenmotive mit expressionistisch-schrillen und phantastischen Metaphern mischt.

 

 

Fergus Fleming: Trikolore über der Sahara. Ein Kolonialreich im Wüstensand. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Zweitausendeins 2004. 386 Seiten.

Dünenflüge in der Sahara

Der englische Autor Fleming, der mit seinen Büchern über Abenteuerreisen einen neuen Typus von Sachbuch entwickelt hat, widmet sich jetzt dem heißesten Ort der Erde: der Wüste. Er beschreibt in „Trikolore über der Sahara“, wie der große Glatzkopf Afrikas zum Opfer des französischen Imperialismus wurde und dabei zahlreiche Glücksritter anzog. Auch zwei fanatische Abenteurer, die dort ihre Berufung und schließlich den Tod finden: den verwöhnten Aristrokraten Charles Eugène Vicomte de Foucauld und den leidenschaftlichen Berufssoldaten Henri Laperrine. Der Lebemann, der mit Gäseleberpastete und silbernen Löffeln in die Wüste zieht, wird dort schließlich zum Einsiedler und gründet einen Orden. Der Perfektionist Laperrine baut ein Rennkamelreiterkops auf, um Nomaden in ihren entlegensten Schlupfwinkeln aufzuspüren. Fleming macht die sorgfältig recherchierten historischen Fakten durch seine greifbaren Personenbeschreibungen, bestechende Detailkenntnis und aussagekräftigen Anekdoten selbst für Geschichtsmuffel lebendig.

 

 

Paula Fox: Der kälteste Winer. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. C.H.Beck Verlag 2006. 154 Seiten.


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Reise durch das Nachkriegseuropa

Die Erinnerung setze oft mitten in einer Geschichte ein, stellt Paula Fox fest – knapp sechzig Jahre nach ihrer Reise quer durch das Nachkriegseuropa des Jahres 1947. Ihr Erinnern, bemerkt der Leser, gehorcht auch weder der Chonologie noch der sogenannten objektiven Wichtigkeit der Ereignisse. Und die Vergangenheit, so die Autorin, habe sich verändert, seit sie dreiundzwanzigjährig als Korrespondentin einer kleinen Nachrichtenagentur London, Paris, Warschau, Prag und Barcelona besucht habe. Vielleicht kommt ihr zweites autobiographisches Buch auch deshalb ohne starke Gefühle aus. Obwohl die zerstörten Städte und dramatischen menschlichen Schicksale, denen sie begegnet, die junge Frau ohne Zweifel nicht kalt gelassen haben. Aber weder der überall spürbare Schrecken des vergangenen Krieges oder die begrenzten Mittel noch „Der kälteste Winter“, so der schlichte Titel des Buches, bringen Paula davon ab, ihre schmerzhaft genauen Beobachtungen unbarmherzig nüchtern festzuhalten. Eindrücke, das weiß sie jetzt mit über Achtzig, die sie von ihren eigenen Fesseln befreiten, weil sie ihr etwas jenseits ihres eigenen Lebens gezeigt haben.

 

 

Jorge Franco: Paraíso Travel. Aus dem Spanischen von Susanna Mende. Unionsverlag 2005. 288 Seiten.

New York Paradise

„‘In Medellín ist alles möglich.‘ Bis auf das Vergessen“, denkt Marlon Cruz im neuen Roman „Paraíso Travel“. Wie Autor Jorge Franco stammt er aus der kolumbianischen Drogenstadt. Er hat seine Heimat verlassen und ist seiner großen Liebe gefolgt: Reina mit den verschiedenfarbigen Augen, die vom amerikanischen Traum, „sueño gringo“, träumt. Mit Hilfe der zwielichtigen Agentur Paraíso gelingt ihnen die Ausreise mit Ziel New York. Aber schon am ersten Tag verlieren sie sich aus den Augen. Nach der Flucht vor der Polizei irrt Marlon orientierungslos durch die Straßen, bis ihn die Frau eines kolumbianischen Restaurantbesitzers aufliest. Sie besorgt ihm einen Job und führt ihn in die Welt der illegalen Einwanderer ein. Erst als Marlon nach langer Suche Reina endlich wiedertrifft, findet er seine Identität. Er erkennt, dass „zu Hause ist, wo man geliebt wird.“ Der dialogstarke Roman mit verschachtelten Rückblenden liest sich trotz des düsteren Themas leicht. Dafür sorgt die Liebesgeschichte und die gut recherchierte authentische Immigrantenwelt New Yorks.

 


Carlos Fuentes: Woran ich glaube. Alphabet des Lebens. Aus dem mexikanischen Spanisch von Sabine Giersberg.

Politisch privates Glaubensbekenntnis

Der 1928 geborene ehemalige mexikanische Botschafter und Harvard-Dozent Carlos Fuentes hat mit seinem neuen Buch „Woran ich glaube. Alphabet des Lebens“ seine Romane, Erzählungen und politischen Essays um ein einerseits sehr privates, andererseits hoch politisches Glaubensbekenntnis ergänzt. In über vierzig Kapiteln gibt Fuentes als Privatmann, Politiker, Schriftsteller und engagierter Essayist Auskunft über die Eckpfeiler seines moralischen Wertesystems. Entstanden ist ein Alphabet mit biographischen Schlüsselbegriffen von A wie Amor, über B wie Buñuel, K wie Kafka, J wie Jesus, O wie Odyssee und S wie Sociedad Civil bis Z wie Zürich. Ein faszinierendes Leitmotiv ist seine Dialektik von Politischem und Privatem, Gobalem und Lokalem. So beschwört er als notwendige Regulatoren der Globalisierung einerseits die an den Idealen des Kommunismus und Humanismus orientierten dringend zu schaffenden internationalen Strukturen und andererseits die Stärkung multikultureller, basisdemokratischer Aktivitäten engagierter Bürger auf lokaler Ebene. Auf seinem Par-force-Ritt durch Kultur, Geschichte, Politik und Philosophie Europas, Nord- und Südamerikas droht der transatlantische Denker höchster moralischer Integrität allerdings mit seinem unglaublich umfassenden Wissen selbst den überdurchschnittlich gebildeten Leser ein ums andere Mal abzuhängen.

 

 

Karl-Markus Gauß: Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone. Otto Müller Verlag 2005. 88 Seiten.

Wirthausberichte aus Europa

Wo würden Sie im Gebiet der sogenannten EU-Osterweiterung das neue Europa suchen? Vermutlich nicht im Bártok-Béla-Express, einem täglich zwischen München und Budapest verkehrendem Zug. Wahrscheinlich auch nicht in einer von zwei Albanern geführten Eisdiele an der Promenade der slowenischen Küstenstadt Piran. Und wohl gar nicht in einem kleinen litauischen Dorf an der Grenze zu Weißrussland, in das sie nur der Zufall und die durch den vielversprechenden Namen Keturiasdešimt Totorių angeregte Neugier geführt hat. Aber genau dort findet Karl-Markus Gauß Menschen, die mehr vom neuen Europa erzählen als nüchterne Fakten. Mit nicht nachlassender Neugier auf alles Unerwartete sammelt er diskret Eindrücke und verknüpft sie kurzweilig mit Daten aus Vergangenheit und Gegenwart der von ihm bereisten zehn neuen Mitgliedsländer. Die von Gauß in der beiliegenden CD auch gesprochenen „Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone“ sind voller humorvoller Melancholie und machen neugierig auf die Länder, deren Beitritt, wie die Wahl zur EU-Verfassung gezeigt hat, das alte Europa spaltet.

 

 

Barbara Gowdy: Die Romantiker. Aus dem kanadischen Englischen von Ulrike Becker. Verlag Antje Kunstmann 2003. 256 Seiten.

Schwere des Herzens

Abelard und Héloise sind mit ihrer überirdischen Liebe, die selbst hinter Klostermauern noch Bestand hat, seit dem Mittelalter zum Ingebriff der unglücklich Liebenden geworden, die erst im Tod zueinander finden. Barbara Gowdy greift dieses Motiv mit der Geschichte von Abel und Louise auf. Die mutterlos aufwachsende Louise liebt den sensiblen Nachbarjungen Abel von Kindheit an. Das adoptierte Waisenkind ist ein intelligenter Außenseiter, der schon als Junge „nicht ganz von dieser Welt“ zu sein scheint. Folgerichtig baut sich Abel ein Weltbild, in dem das Leben nur eine kurze Atempause im unendlichen Raum des Vergessens darstellt. Louise und ihr gemeinsames ungeborenes Kind finden in dieser Zwischenwelt scheinbar keinen Platz. Abel versucht, seine durch die abgebrochene Schwangerschaft katalysierte „Schwere des Herzens“ zu bekämpfen, indem er sich mit Alkohol systematisch dem Vergessen stückweise näher bringt. Louise dagegen , die ihm bis zum Tod treu bleibt, erzählt mit ihrer Perspektive gegen das Vergessen an, indem sie ihre Erinnerungsbruchstücke kaleidoskopartig zu einem unvergesslichen Bild ihrer unglücklichen Liebe zu Abel zusammenstellt. So endet der teilweise etwas zu schwermütige Roman mit einem schmerzdurchtränkten Fazit, das zwischen Feststellung und Aufforderung oszilliert: „Nicht, dass wir je vergessen.“

 

Petra Gropp, Jürgen Hosemann, Günther Opitz, Oliver Vogel (Hrsg.): Neues aus der Heimat! Literarische Streifzüge durch die Gegenwart. Fischer 2004. 256 Seiten.

„Die Heimat ist ein Kamel“

71 deutsche Gegenwarts-Autoren spüren im globalistischen Zeitalter dem hoch ideologisierten Begriff Heimat nach. Poetisch oder essayistisch, in kurzen Erzählungen und Gedichten oder in fragmentarischen Gedanken berichten sie „Neues aus der Heimat!“ Eine vielstimmige Heimatmelodie mit zum Teil absurd komischen, manchmal melancholischen oder nachdenklichen, aber auch historisch-politischen Tönen. Die Geschichten erinnern persönliche Kindheit: das „Meer als Heimat“, Tante Agathe und Onkel Max oder die rundliche Oma Hedwig mit dem federnden Schritt, die drei Männer beerdigt hat. Sie setzen ihre Heimatgefühle trotzig gegen verlogenen Heimatkitsch ab: den ländlich röhrenden Hirsch vor der Haustür oder die großstädtische Berliner Weiße. Sie berichten von politischer Heimat-Vereinnahmung und reflektieren „Deutschlandbilder“. Unter dem Motto „Alles könnte Heimat sein“ bietet der preiswerte Band viele kleine appetitliche Heimathappen, für den literarischen Hunger zwischendurch.



Durs Grünbein: Berenice. Libretto nach Edgar Allan Poe. Mit einer Nachbemerkung des Autors. Suhrkamp 2004. 72 Seiten.

Schauerarabeske „Berenice“ für die Oper

Grundlage für Durs Grünbeins Libretto ist die gleichnamige Novelle Edgar Allan Poes von 1835. In 27 Szenen wird die Geschichte der Geschwister Egaeus und Berenice, mal im archaischen Stil der griechischen Tragödie, mal im hehren Tonfall oder absurder Sprache, dramatisch aufbereitet. Der monomane Bruder vergräbt sich in seiner Bibliothek und entwickelt erst dann Interesse für die schöne Schwester, als sie durch die später als Hysterie bekannte Krankheit zusehends verfällt. Die zwei Tage und eine Nacht, in denen zusehends die Schwelle zwischen Diesseits und Jen-seits verschwimmen, gipfeln in einem schaurigen Finale. Das bewusstseinsauflösende Spiel mit Wirklichkeit und Phantasmen wird durch Grünbeins Idee gesteigert, den Dichter selbst und seine Muse, den Vamp, auftreten zu lassen. Der Autor schrieb das Opern-Libretto in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten Johannes Maria Staud für die Münchener Biennale, Wiener Festwochen im Mai und Juni dieses Jahres und die Berliner Festspiele, wo die Kammeroper am 23. (Premiere) und 25. September 2004 im Berliner Festspielhaus zu sehen ist.

 


Undine Gruenter: Sommergäste in Trouville. Carl Hanser Verlag 2003, 214 Seiten.

Ist der Traum nicht alltäglich?

Schon im Titel schlägt Undine Gruenter mit dem Namen des französischen Badeörtchens Trouville  einen Grundakkord an, in dem Pariser Sommerfrische, Proust und die nordische Küstenlandschaft der Normandie mitschwingen. Unmittelbar an diese Stimmung traumverlorener Melancholie und ungestillter Sehnsucht anknüpfend, webt die Autorin ein Netz aus Erzählungen über unterschiedlichste „Sommergäste“. Undine Gruenter begleitet ihre Protagonisten in heruntergekommene Hotels und abgelegene Winkel und Straßen des Badeortes, beobachtet alte Damen in ihren einsamen Häusern, beschreibt die Verlassenheit der Strände und Promenade in der Nachsaison und schafft so in der Erzählung eine Art traumhaft zeitlosen Schwebezustand. Dabei lässt sie eine atmosphärische Dichte entstehen, die Truffaut, Bunuel, Magritte, Marguerite Duras oder Alain Delon in „Samourai“ zu zitieren scheinen. Die Autorin spielt wie der Komponist Satie, eine fiktive Figur trägt bezeichnenderweise den gleichen Namen, auf der Seele der Leser Klavier. Die Prosa ist von einer Intentsität und Dichte, die die Realität „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ für Momente traumhaft überhöht und im Lesen die Zeit stillstehen lässt. Der erzählerische Versuch Undine Gruenters, „Traum und Alltag zusammenzubringen“ ist stellenweise so überzeugend , dass sich der Leser am Ende mit einer der Figuren fragt: „Ist der Traum nicht alltäglich?“

 

 

Robert Hough: Das Geständnis der Mabel Stark. Aus dem Englischen von Sabine Hedinger. Unionsverlag 2004. 464 Seiten.

Die Frau, die Tiger liebte

Die Lebensgeschichte von Mabel Stark, der 1,55 m kleinen Frau und größten Tigerdompteuse der zwanziger Jahre, ist mehr als ungewöhnlich. Und wenn sie nicht wahr wäre, hätte sie nur von John Irving erfunden werden können, an den schon die skurille Anfangs-Szene erinnert. Dort bringt die junge Krankenschwester Mabel durch allzu beherzte Intimwäsche den Patienten und späteren Ehemann Dimitri in größte Velegenheit. Auch die folgende Flucht aus der Psychiatrie in den Wanderzirkus klingt nach dem typischen Inventar der Irving-Bestseller. Tatsächlich aber handelt es sich bei der minutiös recherchierten Romanbiografie um das Debüt des 41jährigen kanadischen Psychologen Robert Hough. Der Autor lässt Mabel ihre Geschichte in humorvollem, unterhaltsamem Tonfall als Lebensbeichte in Ich-Form selbst erzählen: vom Zirkus, den fünf Ehemännern, ihrer Liebe zu den Raubkatzen, besonders ihrem Lieblingstiger Rajah, der sogar mit ihr in einem Bett schläft. Zwar erreicht das Buch stilistisch nicht die Klasse Irvings, überzeugt aber durch die bemerkenswerte, starke und mutige Persönlichkeit Mabels.

 

 

David Huggins: Ein einziger Hit. Aus dem Englischen von Karsten Singelmann. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins 2003. 256 Seiten.

 

Hardrock-Trip durch London


Thirty something. Die Zeit der gescheiterten Beziehungen und zerplatzten Karriere-Träume. Andy Hayes, einige Jahre zuvor mit der Band Overload Nummer eins in den englischen Charts, lebt nach dem Abgleiten von der Wohlstandsleiter in einem „Wohnstall“ in London und hält sich mit Arbeitslosengeld über Wasser. Auf dem Weg zu seinem Job als Maler und Tapezierer begegnet ihm der ebenfalls gescheiterte Leadsänger Phil Jessup, der ihm die Idee eines gemeinsamen Comebacks präsentiert. Amateur-Schlagzeuger Mark Bowring, „vornehm, reich und bescheuert“, soll das musikalische Unternehmen finanzieren. Aber Vater Richard und die jugendliche Stiefmutter Emma haben anderes mit dem Vermögen vor. Schnell wird klar, dass es bei ihrem „einzigen Hit“ bleiben wird, als Andy Mark tot im Wohnzimmer der todschicken Browning-Villa vorfindet. Der Anfang eines Horrortrips für Andy und Phil, die auf einer rastlosen Odyssee quer durch London versuchen, die Leiche loszuwerden. David Huggins, Londoner Sproß einer alten Schauspieler-Dynastie, hat mit  „Ein einziger Hit“ eine spannende, skurrile und komische Geschichte geschrieben. Mit seinem schnellen, aber präzisen Stil und den szenisch brillanten und comichaft witzigen Beschreibungen eine garantiert amüsante Lektüre, vor allen Dingen für alle knapp über dreißig.

 

 

Frida Kahlo: Jetzt, wo Du mich verlässt, liebe ich Dich mehr denn je. Briefe und andere Schriften. Hrsg. Von Raquel Tibol. Aus dem Spanischen und Englischen von Lisa Grüneisen und Jochen Staebel. SchirmerGraf Verlag 2004. 368 Seiten.

Herz auf der Zunge

Rechtzeitig vor dem 50. Todestag Frida Kahlos am 13. Juli 2004 ist die autobiografische Schriftensammlung erstmals vollständig auf deutsch erschienen. Die Freundin und Kunstkritikerin Raquel Tibol hat 130 Briefe, Notizen, Bekenntnisse und Gedichte chronologisch zusammen-gestellt: von den ersten Briefen der 15jährigen an ihren Jugendschwarm Alejandro Gómez Arias bis zur letzten Notiz vier Monate vor ihrem Tod. Frida spricht hier für sich und von sich: über ihre Jugendliebe zu „Don Alejandro“, ihre tragische Krankheit, die schicksalhaft ihr Leben dominiert, die verzweifelt leidenschaftliche Beziehung zu Diego Rivera und ihr politisches Engagement. Der Leser erkennt viele bekannte Motive wieder. Neues oder Überraschendes findet er auch in den vielen Alltäglichkeiten kaum – bis auf die zwischen Impulsivität, sentimentalem Pathos und bedingungsloser Aufrichtigkeit oszillierende Sprache.

 

 

Hans Werner Kettenbach: Kleinstadtaffäre. Diogenes 2004. 505 Seiten.

Der Pate von Merzthal

Den namhaften Autor Carl Wallot verschlägt es anlässlich einer Lesung in das gottverlassene Provinznest Merzthal. Er logiert im Waldhotel, wo er mit der Hausherrin eine Affäre beginnt. Susanne ist die Ehefrau des in skrupellose Waffengeschäfte verwickelten Unternehmers und gleichzeitig einflussreichsten regionalen Mäzens Kurt Keppler. Der Schriftsteller bleibt länger als geplant und spürt für sein neues Buch, ein soziologisches Kleinstadt-Porträt, den unsauberen Aktivitäten des „Paten von Merzthal“ nach. Die ideale Ausgangs-Konstellation für einen Provinzkrimi vom Format Claude Chabrols. Beobachtet und erzählt wird das Geschehen vom jungen Redakteur der Lokalzeitung „Merzthaler Bote“ Jörg Froberger, der nicht nur aus rein beruflichem Interesse für das örtliche Blättchen recherchiert, sondern aufgrund seiner Jugendliebe zu Susanne auch persönlich engagiert ist. Der Schmöker ist mit viel Gespür für charakteristische Kleinstadt-Atmosphären geschrieben und kombiniert die spannende Krimi-Handlung mit filmischen Erzählmomenten, die den Leser sofort in die Geschichte hineinziehen.

 

 

Jurga Ivanauskaitė: Placebo. Aus dem Litauischen von Markus Roduner. Deutscher Taschenbuch Verlag 2005. 440 Seiten.

Orwells „1984“ in Litauen

An die letzten Augenblicke ihres Lebens kann sich Julija nicht mehr erinnern. Aus dem Jenseits beobachtet sie dafür jetzt das Geschehen nach ihrem Tod. Ein gewaltsamer Mord, den sie, obwohl berühmte Wahrsagerin von Vilnius, selbst nicht voraussehen konnte. Warum also musste sie sterben? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Verstorbene, sondern auch ihre Freunde: die Journalistin Rita, Showstar Maksas und Bruder Tadas. Die Recherche führt zu einer mächtigen Geheimorganisation mit dem Namen Placebo. Diese versucht durch kollektive Medien-Manipulation à la George Orwells „1984“ den willenlosen Konsumenten globale Wirklichkeit werden zu lassen. Autorin Jurga Ivanauskaitė wurde 1993 mit ihrem Skandalroman „Die Regenhexe“ in Litauen über Nacht bekannt. „Placebo“, ihr zweiter Roman, ist eine schräge Mischung aus surrealem Krimi, esoterisch-mythischem Science-Fiction und skurillem Gesellschaftsporträt des aktuellen Litauens. Sie entwickelt in „Placebo“ eine spezifisch litauische Perspektive und einen charakteristischen Tonfall, der den Nerv ihrer Landsleute trifft und auch außerhalb Litauens Aufmerksamkeit verdient.

 

 

Ioanna Karystiani: Schattenhochzeit. Aus dem Griechischen von Michaela Prinziger. Suhrkamp 2003. 392 Seiten.

Der Tod und der Jüngling

Das Lied „Der Tod und der Jüngling“ bildet das Leitmotiv des neuen Romans „Schattenhochzeit“ der Kreterin Ioanna Karystiani. Tod und Liebe sind es, die die kretischen Cousins Kyriakos Roussias schicksalhaft verbinden. Die Wege der gleichnamigen Jungen trennen sich im Zeichen der Blutrache: „Der Kurze“ rächt den auf seiner Hochzeit verübten Mord am Bruder, als er den Vater „des Langen“ erschießt. Während der fünfzehnjährige Waise nach Amerika geschickt wird, wo er als Aidsforscher Karriere macht, verbringt der Cousin siebzehn Jahre in Haft. Erst achtundzwanzig Jahre später zieht es den Wissenschaftler in seine Heimat, wo er erfährt, dass sein Vater sowohl Opfer als auch Täter war und wo er in der Ehefrau des Cousins seine Jugendliebe Maro erkennt. Mehrere hundert Buchseiten umkreisen die Gegenspieler einander, bis es zur entscheidenden Begegnung just an dem Ort kommt, wo 1943 die Familenfehde begann und wo sie nun im Verlauf eines wortkargen Dialogs schließlich ihr unblutiges Ende findet. Der Autorin gelingt es nur momentweise, dem Leser in atmosphärisch dichten Bildern die festgefügten sozialen Regeln und kargen Lebensverhältnisse der Kreter anschaulich zu machen, während ansonsten die brisante Thematik durch die erzählerische Breite und allzu transparente Romankonstruktion ihre Spannung verliert.


Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. Zsolnay 2008. 238 Seiten.

Was verloren geht, bist immer du selbst

Unbarmherzig genau hat Ruth Klüger in „weiter leben“ über ihre Jugend als Jüdin im Dritten Reich geschrieben. Genauso gnadenlos stellt sie sich jetzt in „unterwegs verloren“ ihren Erinnerungen an das Exil in der Neuen Welt. Ihr Fazit: Einen Neuanfang gibt es nicht, nur Fortsetzungen auf einem Weg, der zusehends schmaler wird. Aus Reaktionen gegenüber ihrer KZ-Tätowierung schließt sie: Als Holocaust-Überlebende ist sie selbst für Amerikaner eine Zumutung. Auch nach Entfernung der Nummer begegnet sie Menschen, die sie wegen ihrer jüdischen Herkunft diskriminieren. Als Jüdin und als Frau fühlt sie sich doppelt benachteiligt. Wütend wehrt sie sich gegen einen antisemitischen Professor, der sie aus einem Seminar ausschließt. Empört reagiert sie, als ihr Arzt und ihr Ehemann alleine darüber diskutieren, ob sie mit ihrem Herzfehler ihr Kind austragen darf. Klüger setzt sich gegen viele Hindernisse, Feindseligkeiten und Enttäuschungen durch: Sie lässt sich scheiden, zieht ihre beiden Söhne alleine auf und verfolgt ihre akademische Karriere als Germanistin. Erst mit Einundsechzig und ihrem Buch „weiter leben“ gelangt sie zu spätem Ruhm. In Göttingen kann sie sich noch einmal eine zweite Heimat aufbauen. Dennoch dominiert die Erfahrung: Im Alter häufen sich die Verluste, die Welt wird frostiger. Und: „Mit jedem Verlust gleitet der Fuß abwärts, auf jeder Reise bröckelt ein Stück Ich ab. Was unterwegs verloren geht, bist immer du selbst.“ Ruth Klügers „unterwegs verloren“ sind keine beschönigenden Erinnerungen, sondern eine erbarmungslose Bestandsaufnahme – wie immer bei Ruth Klüger voller Trotz, Mut und Verstand.



Helmut Krausser: Strom. Neunundneunzig neue Gedichte (`99 – `03) Rowohlt 2003. 107 Seiten.

Neunundneunzig neue Gedichte

„Strom“, der Titel. Das Buchcover schwarz durchblitzt von leuchtenden, sich in den Tiefen des Raums schneidenden Lazerstrahlen, versehen mit endlosen digitalen Null-Eins-Codestreifen, die sich in der zeitlosen nachtdunklen Tiefe aufzulösen scheinen. Konzentrierte Energie, die in Form von scharfen Lichtspuren jäh das Nichts durchschneidet. Was man erwartet, ist hart, lazerscharf, computerisiert, entmenschlicht. Falsch assoziiert! Das „literarische Chamäleon“ Helmut Krausser überrascht, einmal mehr, mit einem Buch voller Poesie. „Neunundneunzig neue Gedichte“ präsentiert der antikonventionelle Autor, der im Spannungsfeld zwischen den Extremen immer die radikalste Position wählt. Der Liebhaber der gezielten Provokation zeigt sich in den zwischen 1999 bis 2003 entstandenen lyrischen Texten erstaunlich zahm und ungewohnt poetisch. Krausser verblüfft mit der kunstvollen Verwendung unterschiedlicher Stile und Sprechweisen und wechselt gekonnt zwischen Sonett, Alexandriner, konkreter Poesie und freien Rhythmen. Mit postmoderner Virtuosität spielt er mit Arno Schmidt’scher Zeichenprosa oder Jandl’scher „reduzierter Poesie“, mal minimalistisch verkürzt, mal in hohem wortreichem Ton. Ein lohnenswerter Band zeitgenössischer Lyrik.


Jacques Lederer: Gross und Klein. Rowohlt 2003. 107 Seiten,

Täter und Opfer – Sigrand und Sip’tit

Paris 1942. Zwei siebenjährige Jungen sitzen gemeinsam auf der Schulbank. Der kleinere Jude versucht vergeblich, seine Herkunft vor dem Größeren zu verbergen, der mit seiner Neigung zu boshaften Quälereien in ihm das ideale Opfer gefunden hat. Der junge Tyrann, der es liebt, sein Herrschaftsverhältnis zum Kleineren an historischen Vorbildern wie Anne Boleyn und Heinrich VIII. zu inszenieren, wird aber später selbst zum Opfer. Denn: Auch er ist Jude und entkommt nur durch Zufall dem Tod in der Gaskammer. Auch sein kleiner Schulkamerad überlebt mit Glück den Holocaust in der französischen Provinz und sieht den talentierten Jazzpianisten erst in einem Lungensanatorium wieder, das nicht nur in seinem Namen Petit Berghof an den „Zauberberg“ von Thomas Mann erinnert. Während der empfindsame Student sich hier nach Hans Castorps Vorbild der Krankheit und der morbiden Melancholie ergibt, sucht der nicht nur musikalisch kompromisslose Dollinger durch Provokation der Patienten und Einheimischen die Konfrontation mit dem kollektiv verdrängten Kriegsgeschehen. Jacques Lederer hat mit der scheinbar unspektakulären Geschichte zweier jüdischer Jungen „Gross und Klein“ eine Parabel über Täter und Opfer geschrieben, die von beiden eine gemeinsame, aktive schonungslose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einfordert.



Dea Loher: Hundskopf. Erzählungen. Wallstein 2005. 114 Seiten.

Über die Berge gehen

Dea Loher lebt und arbeitet als Theaterautorin in Berlin, wo sie auch mit Heiner Müller zusammengearbeitet hat. Bereits seit den frühen neunziger Jahren ist sie als Dramatikern erfolgreich. Jetzt ist ihr Prosadebüt „Hundskopf“ erschienen. Die acht Erzählungen sind dramaturgisch höchst professionell komponiert. Sie setzen mitten im Geschehen ein und stellen die Protagonisten unvorbereitet einer Situation gegenüber, die sie in die Enge treibt und zum Handeln zwingt. In der Titelstory geht es um einen Barkeeper. Eine Unbekannte beauftragt ihn mit dem Mord an ihrem Ex-Mann. Wie wird er reagieren? Sein Glasauge ist in „Das Auge“ für Réné zum Symbol des Sterbens geworden, weil es die Trauer des Bruders über den Verlust der Frau sehen musste. Was wird er tun? „Über die Berge gehen“ sollte die Tochter als Kind mit ihrem Vater. Wird sie sich jetzt für den Gewaltmarsch rächen? In allen Fällen bleibt das Ende offen, der Konflikt ungelöst, der Leser ohne Antwort. Ohne zu psychologisieren, stellt Dea Loher psychische Ausnahmesituationen dar. Mit einer beeindruckenden suggestiven szenischen Präsenz, die Zuschauer zu Beteiligten werden lässt.

 


Wladimir Makanin: Der kaukasische Gefangene. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Luchterhand 2005. 240 Seiten.

Gescheiterte Schönheit

Der russische Mathematiker, Filmemacher und Schriftsteller Wladimir Makanin ging 2003 mit seinem Opus Magnum „Underground oder Ein Held unserer Zeit“ durch die deutschsprachige Presse. Unter dem Titel „Der kaukasische Gefangene“ erscheinen jetzt drei Erzählungen. Sie handeln von nichts weniger als von Schönheit, Freiheit und Liebe. Oder vielmehr von ihrem Scheitern. Denn die Ideale zerbrechen an der russischen Realität. In der Titel-Geschichte an der grausamen Wirklichkeit eines Krieges, in der auch die Schönheit des Gefangenen keine Rettung vor dem gewaltsamen Tod bietet. Oder in „Der Buchstabe A“, wo die Vision der Freiheit durch die Brutalität des Straflagers so pervertiert wird, dass das gefolterte Bewusstsein sogar nach der Befreiung dem geistigen Stacheldraht nicht entkommt. Und in „Eine geglückte Liebesgeschichte“, einer in der trostlosen Gegenwart nach der Perestroika ernüchterten Liebe. Leider kann Makanin mit seinen zugleich drastischen und symbolistischen Parabeln über Russland letztlich nicht wirklich überzeugen.

 

 

Juan José Millás: Zwei Frauen in Prag. Aus dem Spanischen von Ilse Layer, dtv 2005.196 Seiten.


Wahrheitsgemäße Lügen

Welche Lüge ist die Wahrheit? Die Wahrheit ist, dass Luz Acaso in Álvaro Abrils Madrider Büro jeden Tag neue Lügen erfindet. „In unserer Schreibwerkstatt verfassen wir Ihre Biografie. Literarische Qualität garantiert.“ Diese Anzeige hatte die 40-jährige Luz zu Álvaro geführt; dem 25-jährigen Schriftsteller, der mit seinem Romandebüt großen Erfolg hatte. Jetzt erzählt sie ihm dauernd wechselnde Lebensgeschichten. Ist sie nun Prostituierte? Oder hat sie, mit fünfzehn Jahren schwanger, ihr Kind zur Adoption freigegeben? Ist sie vielleicht sogar Álvaros Mutter? Kann der Ich-Erzähler und Journalist, der für eine Reportage über Adoption recherchiert, Licht ins Dunkel bringen? Oder weiß die „linkshändige Frau“ Mariá José, die aus dem Nichts auftaucht und bei Luz einzieht, mehr über seine Herkunft? Was, wenn die Wahrheit allererst erfunden werden muss? Wie in der autobiografischen Novelle des Ich-Erzählers über einen unehelichen Sohn, der heute so alt wie Álvaro wäre? „Zwei Frauen in Prag“ von Juan José Millás ist nichts für Leser, die klare Antworten su-chen. Aber das Richtige für Leser, die das Spiel mit Schein und Wirklichkeit lieben.

 

 

Olaf Müller: Schlesisches Wetter. Berlin Verlag, Berlin 2003, 236 Seiten.

Klub der verlorenen Gänse

Olaf Müllers „Schlesisches Wetter“, beginnt in Berlin, wo der gescheiterte Journalist Alexander Schynoski mit einer erfolgreichen Architektin zusammenlebt. Die Partnerschaft zerbricht, als es die ehrgeizige Arbeitsnomadin Maureen in die Welt hinaus zieht. Schynoski hingegen treibt es auf der Suche nach der eigenen Identität zurück in die eigene Vergangenheit, die stark durch die Erinnerung an die Erzählungen der aus ihrer schlesischen Heimat vertriebenen Großmutter geprägt ist. Schynoskis Zeitreise wird initiiert durch einen Zufall. Das Schicksal, unberechenbar wie schlesisches Wetter, führt ihn in den skurillen polnischen „Klub der verlorenen Gänse“ in Berlin, dann nach Breslau und bis in das polnische Provinzdorf Fürsten-Altguth, wo er sich unversehens verliebt und dort tatsächlich nicht nur die alte  Heimat der Familie, sondern für sich eine neue Heimat findet. Mutig, dass sich ein Schriftsteller Jahrgang 1962 an das Thema der Vertriebenen wagt, um es  aus dem Blickwinkel der dritten Generation ganz neu zu beleuchten. Formal zeichnet sich der Roman durch spannende Konstruktionen aus geschickten Montagen, Zeit- und Raum-Sprüngen und eine dynamische Sprache aus, die, oft humorvoll selbstironisch, Lust auf mehr macht.

 

 

Georg M. Oswald: Im Himmel. Rowohlt 2003. 185 Seiten.

Welt der Schönen und Reichen

„Paradies“ nennen die Einheimischen die Gegend am Ufer des Starnberger Sees, gleich neben Welting, dem reichen Villenviertel, in dem der zwanzigjährige Marcel aufwächst. Zwischen eigener Anwaltskanzlei, Swimmingpool, Golfclub und Porsche Carrera haben sich die Eltern einen „Garten Eden“ aufgebaut, der nur noch graduell mit noch mehr beruflichem Erfolg, noch größeren Autos und noch schöneren Häusern steigerbar ist. Marcel, schon zweimal am Abitur gescheitert, beobachtet diese Welt der Schönen und Reichen, dessen Teil er ist, mit gelangweil-tem Befremden. Erwartungsgemäß erweist sich die scheinbar heile Welt schnell als brüchige Kulisse. Hinter der glänzenden Fassade verbergen sich menschliche Abgründe, die, wie in der billigen Kopie eines Film-Drehbuchs von Chabrol, vom Protagonisten eher unfreiwillig aufgedeckt werden. Naturgemäß gipfelt die Geschichte in einer Tragödie. Für Marcel, erst die Distanz im Internat macht es möglich, das Initiationserlebnis zum Schreiben. Enstanden ist „Im Himmel“, eine Erzählung in der Erzählung, deren mangelnde Qualität auch dadurch nicht legitimiert wird, dass Autor George M. Oswald sie dem spätpubertierenden Marcel als schriftstellerisches Erst-lingswerk in die Feder diktiert.



Leonardo Padura: Labyrinth der Masken. Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag 2005. 270 Seiten.

Heißer Sommer in Kuba

Endlich ermittelt wieder! Der sentimentale Erinnerungsfetischist und Poet, der Liebhaber erotischer Abenteuer und wüster Alkoholexzesse: Teniente Mario el Conde. Im zweiten Teil des nach Jahreszeiten gegliederten „Havanna-Quartetts“ untersucht der melancholisch-widerspenstige Polizist im heißen kubanischen Sommer den Mord an einem Transvestiten. Und stößt bei seinen Recherchen im Homo-und-Transsexuellen-Milieu auf ein „Labyrinth der Masken“. Ein Geflecht aus Lügen, Verstellungen, Vorurteilen und Unterdrückung von höchster politischer Brisanz. Neben der Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände geht es – das erwartet man im kommunistischen Kuba am wenigsten – um Religion. Genauer gesagt um die mystische Idee einer Transfiguration. Kühn verknüpft mit Gedanken zu einer Transvestiten-Ästhetik und Ereignissen im Zusammenhang kommunistischer Repression ergibt das eine äußerst bizarre Kombination. Ein skurriler Mix, der dem wie immer spannenden, sinnlich-satten, menschlich-humorvollen Krimi Paduras eine ausgefallene Note verleiht.



Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen. Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein. Unionsverlag 2005. 284 Seiten.


Herbststürme in Kuba

1989. Kubas politisches Wendejahr. Das trügerische Blau des Himmels und das warme Licht täuschen. Mit dem Herbst geht nicht nur das Jahr zu Ende. Es brechen andere Zeiten an. Stürme, Vorboten des Winters, rasen auf die Insel zu. Und der von Komissar Mario Conde verehrte Vorgesetzte Mayor Rangel wird von einem auf den anderen Tag entlassen. Für Teniente Conde das sichere Zeichen: Auch für ihn ist es Zeit zu gehen. Aber vorher wird er noch einmal ermitteln. Im Schlussroman des nach Jahreszeiten geordneten Havanna-Quartetts von Leonardo Padura mit dem Titel „Das Meer der Illusionen“. Es ist Condes vierter und letzter Fall. Eine Leiche liegt am Strand. Es handelt sich um einen hohen Ex-Funktionär der kubanischen Regierung. Ein Mann mit großem Einfluss und vielen Feinden. Miguel Forcade Mier war nach der Revolution für die Enteignung der Kunstschätze der Bourgeoisie verantwortlich. 1978 setzt er sich in den Westen ab. Er ist aus Miami nach Kuba gekommen, um seinen todkranken Vater zu besuchen. Warum wurde er ermordet? Wieder führen die Ermittlungen weit zurück in Kubas politische und damit auch in Marios persönliche Vergangenheit. Eine Geschichte voller verlorener Utopien und unerfüllter Sehnsüchte. Enttäuschungen, die der sentimentale Conde in Liebesabenteuern, mit Zigaretten und unmäßigem Rum-Konsum zu vergessen sucht. Ein spannender Krimi voll Melancholie, Leidenschaft und Humor, der viel von der Realität Kubas erzählt.

 

Connie Palmen: Ganz der Ihre. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes 2004. 4245 Seiten.

Der Roman der niederländischen Autorin Connie Palmen „Ganz der Ihre“  hat den Charakter eines literatur-psychologischen Experiments. Die fiktive Versuchsanordnung besteht aus fünf Frauen und einem Mann. Im Zentrum steht „Mon“, der Starkolumnist und Frauenheld Salomon Schwartz. Um ihn drehen sich die Berichte der Psychologin Saar de Vries, der Hure Lili, Schauspielerin Judit Mendes da Costa, Ordensschwester Monica und der Biografin Charlie. Jede hat ihre ganz eigene Beziehung zu dem scheinbar bindungsunfähigen und letztlich einsamen Mon. In vier Kapiteln, eingerahmt von Prolog und Epilog, kommen die Frauen wechselweise zu Wort. In der Erzählung und Reflexion über den Geliebten beginnen sie sich ihrer je eigenen Herkunft und psycho-sozialen Verfasstheit bewusst zu werden. Die Autorin spinnt ein komplexes Netz aus hauchdünnen Seelenfäden und entwickelt mit den fiktiven Psychogrammen zugleich ein Bild des Zeitalters: „Sobald man sich in eine Seele vertieft, stößt man auf eine Kultur.“ „Ganz der Ihre“ ist anspruchsvolle literarischer Seelenarbeit, die den Leser gefangen nimmt.

 

 

Carmen Posadas: Kleine Infamien. Deutsch von Thomas Brovot. Suhrkamp 2004. 282 Seiten.

Kriminalistische Köstlichkeiten

In „Kleine Infamien“ serviert Carmen Posadas ein Menü surprise: mit einer Messerspitze „Mord im Orient-Express“, einer Prise „Pater Brown“ und einem Hauch „Rezepte von Paul Bocuse“. Maître Néstor Chaffino wird mit gefrorenen Schnurrbart-spitzen, die an Hercule Poiret erinnern, tot in der Kühlkammer des Sommerhauses der Teldis aufgefunden. Hier hatte er auf einem Fest für exzentrische Sammler kulinarische Köstlichkeiten aufgetischt. Es scheint klar, dass einer der Gäste den Meisterkoch in der Hitze der Costa Brava zum absurden Tod durch Erfrieren verurteilte, weil er zu viel wusste. Zu viel über die Geheimnisse von lauwarmem Hummersalat oder Schokoladentrüffeln mit Ingwer; zu viel aber auch über die dunkle Vergangenheit der Gastgeber und einzelner Gäste. Wie über Richter Serafín Tous und seine erotischen Vorlieben, Adela und ihre Liebschaften, Ernestos Ex-Verbindungen zum argentinischen Militär oder über die Herkunft von Küchenhilfe Carlos ... Und welche Rätsel birgt das schwarze Notizbuch des „Chef de cuisine“ noch? Eins ist sicher: Carmen Posadas hat mit ihrem Bestseller den Geschmack von Liebhabern leichter, geschickt konstruierter Kriminalromane getroffen.

 

 

José Manuel Prieto: Liwadija. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp 2004. 360 Seiten

 

Literarische Seelenarbeit


Der Roman „Liwadija“ des russlanderfahrenen kubanischen Autors Prieto ist jetzt auf Deutsch erschienen. Das Buch ist ein Briefroman, aber auch eine Liebesgeschichte, ein Entwicklungsroman und die Erzählung eines modernen Abenteurers. Der chaplineske Held J. ist Schmuggler und bringt von Nachtsichtgeräten bis zu Mammutzähnen alles über die russische Grenze, was sich vergolden lässt. Der ungewöhnliche Auftrag, einen seltenen Schmetterling zu fangen und außer Landes zu schaffen, verschlägt ihn von Stockholm zunächst in die von wildernden Störfischern bevölkerte kaspische Senke an der Wolgamündung, später in den idyllischen Sommerresidenz Liwadija auf der Krim. Aber vergebens. Statt dem kostbaren „Jasius“ geht ihm bei einem Aufenthalt in Istanbul, wo er seinen schwedischen Auftraggeber Stockis im Nachtclub „Saray“ trifft, ein „Nachtfalter“ ins Netz. Die russischstämmige Prostituierte W., die sich als Eisläuferin ausgibt und ihn dazu bringt, ihr zur abenteuerlichen Flucht  zu verhelfen. Im Hafen von Odessa wird er von ihr versetzt, so dass er alleine nach Liwadija reist, wo er in einer skurrilen Pension unterkommt, in der ihn Briefe W.`s überraschen.

 


Laura Restrepo: Die dunkle Braut. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Elisabeth Müller. Europa Verlag 2003. 384 Seiten.

El amor de café

Wie aus dem Nichts strandet ein verwahrlostes Mädchen, „leicht wie die Erinnerung“ in das am Ufer des Magdalena mitten im Urwald gelegene Tora. Todos los Santos, die weise Alte von „La Catunga“, dem Rotlicht-Viertel, nimmt sich der mageren Namenlosen ohne Herkunft an und führt sie in die Liebeskunst „el amor de café“ ein, denn sie will „puta“ werden. Schnell wird die japanisch anmutende schöne Sayonara zur Liebeskönigin, deren exotischem Zauber sich keiner der „petroleros“ von der Tropical Oil Company entziehen kann. Im Zentrum des Begehrens stehend, wird sie selbst Opfer einer unglücklichen Liebe, die sie schließlich forttreibt von Catunga „wie eine Legende am Ufer des Magdalena“ – unter der Macht einer beinahe überirdischen „Sehnsucht, die keinen Namen hatte und erst recht nicht zu erfüllen war“. Die von Marquez und Isabel Allende geschätzte kolumbianische Autorin Laura Restrepo schreibt mit der Liebesgeschichte eine Parabel auf das von Gewalt, Hunger und Ausbeutung geschundene Kolumbien. „Die dunkle Braut“ greift als fiktive Reportage die lebendige mündliche Erzähltradition auf und zieht den Leser mit fesselnden Beschreibungen in Bann. Eine lohnende Lektüre mit der für die südamerikanische Literatur typischen „schweren Leichtigkeit“ einer auf Alltagsdetails basierenden Lebensphilosophie.

 

 

Peter Rosei: Wien Metropolis. Klett-Cotta 2005. 253 Seiten.

Metropolis im Alpenland

In „Wien Metropolis“ nähert sich Peter Rosei seiner Geburtsstadt und Lebensmittelpunkt von verschiedenen Seiten. Mit mehreren unabhängigen Erzählsträngen, die jeder für sich eine in sich geschlossene Kurzgeschichte abgeben, eröffnet er seinen Roman. Erst allmählich führen die Lebenswege die Figuren zur österreichischen Hauptstadt, wo sich ihre Geschichten unmerklich mehr und mehr verknüpfen. Mit wellenartiger Dynamik verstrickt sich „alles bald in einem Durcheinander, wirr und weich, das Untere kommt bald zuoberst, und das Obere kippt nach unten."“Genauso logisch willkürlich wie erzählerisch zwangsläufig, wie die Personen zusammengeführt wurden, driften sie schließlich wieder auseinander. Die ganz unterschiedlichen Geschichten der Ex-Militärs Oberkofler und Pandura, des Juden Leitomeritzky, der Studenten Alfred und Georg, des Arbeiterpaars Maria und Johann Oberth oder der Maklerin Strnad werden von Rosei geschickt zu einer Partitur komponiert, zu „einer unerhörten, einer noch nie dagewesenen Musik!“ Entstanden ist ein Buch mit charakteristisch wienerischem Rhythmus, ein unterhaltsamer Roman über das unvergleichliche Metropolis im Alpenland.



Thomas Rosenboom: Tango. DVA 2005. 116 Seiten.

Liebessüchtige Tangueros

Han Bijman ist fünfundvierzig und arbeitet nach abgebrochenem Chemiestudium in der Finanzbuchhaltung bei Shell. Vor einem Jahr ist er unter Machteld ins Haus einer Amsterdamer Seitengracht gezogen. Die fünfundfünfzigjährige Juristin arbeitet in der Bewährungshilfe, ist leidenschaftliche Tangotänzerin und, wie Han, Jungeselle. Von ihr angesteckt und durch den Damen-überschuss der Amsterdamer Tangueros motiviert, meldet sich Han bei der Academia del Tango an. Und wagt sich direkt in den exklusivsten Quartalssalon der Stadt. Als einsamer Tänzer bleibt er sitzen, bis eine hinreißende blonde Frau ihn auffordert. Esther und Han werden ein leidenschaftliches Paar, beim Milonga-Kurs und danach. Ihr Glück wird jedoch empfindlich gestört, als Esthers indischer Liebhaber sie in Amsterdam besucht. Shannas Anwesenheit zwingt sie zur heimlichen Fortsetzung ihrer Beziehung. Aber nach seiner Abreise ist auch ihre Affäre zu Ende, und Han bleibt als einsamer Tanguero zurück. Thomas Rosenbooms „Tango“ ist ein leichtes, allzu leichtes Potpourri über den schwermütigen lateinamerikanischen Tanz der Leidenschaft und Liebe.

 


Jaroslav Rudiš: Der Himmel unter Berlin. Rowohlt 2004. 176 Seiten.

Unser Leben ist wie U-Bahn-Fahren

In seinem Debütroman „Der Himmel unter Berlin“ wählt Jaroslav Rudiš in antithetischer Kontrafaktur zu Wim Wenders Film nicht die Perspektive der Engel, die sorgend und tröstend „über“ Stadt und Menschen schweben. Der Prager Autor nähert sich mit seinem Helden Petr Bém Berlin aus der Tiefe. Sein Schauplatz ist die U-Bahn und seine Liebe gilt dem Punk-Rock, der Musik voll Schwärze, Krach und Tempo. U-Bahn heißt auch die Band, die Bém gemeinsam mit dem leidenschaftlichen Punk-Rocker und professionellen Frauen-Verführer Pancho Dirk gründet. Klar, dass sie ihre trashig-poetischen Konzerte im Berliner Untergrund geben, dem Zuhause der Verrückten, Drogenabhängigen, Einsamen und Unglücklichen. Und Petr verliebt sich in Katrin, die Tochter eines Zugführers, der ihm von der über hundertjährigen Geschichte des unterirdischen Gleisnetzes und den zahllosen Selbstmordkandidaten berichtet. Rudiš gelingt mit seinem schnellen Sprachrhythmus, der im Herzen Trommeln schlägt wie ein guter Kaffee, wechselnd mit poetischen Bildern und alltagsphilosophischen Passagen eine originelle, erfrischende und authentische Erzählung.



Matt Ruff: Ich und die anderen. Aus dem Amerikanischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser 2004. 600 Seiten.

Ein turbulentes Haus im Kopf

Andy und Penny, die beide unter multipler Persönlichkeitsstörung leiden, lernen sich in Julie‘s Virtual Reality Factory kennen. Der ideale dramaturgische Ausgangspunkt für den sechs-hundertseitigen Roman des amerikanischen Autors Matt Ruff „Ich und die anderen“ und der Beginn für ein spannendes Roadmovie. Andy Gage und die Mitbewohner seines Seelen-Hauses Adam, Jake, Tante Sam und Penny, ihr Alter Ego Mouse und die bösen Geister Maledicta und Malefica machen sich auf die Suche nach den biografischen Ursprüngen ihrer Ich-Dissoziation und sorgen dabei für zum Teil sehr skurille Turbulenzen. Aber die Reise ins Unterbewusstsein führt in Abgründe: den Kindesmissbrauch. Eine erzählerische Herausforderung, der Ruff nach seinem Fantasy-Kultbuch „Fool on the Hill“ und der Scie-Fi-Satire „G.A.S“ gerecht wird, indem er die sekündlich wechselnden Seelenzustände der zersplitterten Charaktere in origineller Bildlichkeit darstellt und in szenische Komik münden lässt. Ein ungewöhnliches Buch, das den Leser emotional involviert, mit Humor entlastet und ihn in der eigenen Vielfalt spiegelt.



José Saramago: Der Doppelgänger. Deutsch von Marianne Gareis. Rowohlt 2004. 383 Seiten.

Original und Fälschung

José Saramagos jetzt auf Deutsch erschienener Roman „Der Doppelgänger“ stellt die Frage nach der Identität des Subjekts und – augenzwinkernd auf den gleichnamigen Klassiker Dostojewskis anspielend – nach dem Verhältnis von Kopie zu Original. Geschichtslehrer Tertuliano Máximo Alfonso lebt trotz sporadischer Beziehung zu Maria da Paz allein. Als er im Nebendarsteller eines zweitklassigen Videos sein Ebenbild entdeckt, sucht er den Kontakt Daniel Santa-Claras, alias António Claros. Damit beginnt eine Verwechslungstragödie, die den Protagonisten seine Identität und die Geliebte und den Schauspieler das Leben kostet. Als Máximo den Platz des Pendants an der Seite der Ehefrau Helena einnimmt, wissen nur Mutter Dona Carolina und Familienhund Tomarctus um den Rollentausch. Saramagos Technik, direkte und indirekte Rede, innere Monologe, Erzählerkommentare und die Debatten mit dem „Gesunden Menschenverstand“ zu seitenlangen Sätzen aneinanderzureihen, macht den Roman langatmig. Die erzähleri-schen Kunstgriffe reichen kaum, die Aufmerksamkeit bis zum unterhaltsameren zweiten Teil des Buchs aufrechtzuerhalten.

 


Angeles Saura: Der Zweifel. Aus dem Spanischen von Jürgen Dormagen. Suhrkamp 2003. 120 Seiten.

Don César faciebat

Der Buchtitel: Ein barockes Früchte-Stilleben, Weintrauben und -blätter, eine angeschnittene Melone, darauf eine Fliege. Alltäglich und Symbol der Vergänglichkeit, opulent und reduziert zugleich, eine barocke Antithese. Genau dieser Reiz des Gegensätzlichen fasziniert den vierundachtzigjährigen Kunstkritiker Don Cesar Rinconeda. Und eben das ist der Grund, warum er dem Barockmaler und Meister asketischer Stillleben Franciso Meltán sein Lebenswerk gewidmet hat. Glücklich über den Besitz eines selbst entdeckten verschollenen Meisterwerks, lebt Don Cesar allein und zufrieden in seinem kastilischen Provinzhaus. Bis eines Tages die skandinavische Kunststudentin Brunnhild Björnström mit Zweifeln an der Herkunft des Bildes sein komplettes Lebenswerk bedroht. „Niemals“, wehrt sich der Alte zum Auftakt des einen Tag und eine Nacht dauernden Monologs, während dessen er einen infernalischen Plan schmiedet. Ein kraftvoll, übersteigertes Pamphlet vom Format Thomas Bernhards: Bitterböse Wutausbrüche und machichstische Tiraden reihen sich in in abenteuerlichen Satzkonstruktionen aneinander. Ein wilder Kampf gegen den Zweifel, dessen Ausgang letztlich offenbleibt. Angeles Saura spielt virtuos und humorvoll mit barocken Versatzstücken wie kreisend abwandelnde Worthäufungen, kräftige Bildsprache, lateinische Zitate und Zahlenmystik. Eine amüsante Lektüre, besonders für Barock-Liebhaber.

 

Steinunn Sigurdardóttir: Gletschertheater. Aus dem Isländischen von Coletta Bürling. Rowohlt Verlag 2003. 317 Seiten.

Sinnsuche am Rande des ewigen Eises

„Gletschertheater“: Schon der Titel des neuen Buches der Isländerin Sigurdardóttir zwingt Gegensätzliches zusammen. Diesen Extremen setzt die Autorin auch die Personen ihres Romans aus, den sie nach tschechowschem Vorbild als tragische Posse und possenhafte Tragödie inszeniert. Im isländischen Dorf Papavík will der Laienspielverein an Tschechows hundertvierzigstem Geburtstag das Stück „Der Kirschgarten“ aufführen. Der geldschwere Unternehmer Vatnar Jökull nimmt die Sache in die Hand. Am Fuße des Hochkogel, dem herrlichsten Aussichtspunkt auf Gletscher, Himmel und Meer, lässt er eigens ein Theater bauen. Dort soll ein Berliner Dramaturg den vom trinkfreudigen Buchhändler neu übersetzten Text in rein männlicher Besetzung auf die Bühne bringen. Drei Jahre dauert die turbulente Vorbereitungszeit, in der Liebesaffären, Alkohol- und Ehekrisen das Dorf auf den Kopf stellen: Seelen finden sich, Künstler sterben und Hausmädchen werden schwanger. Die Menschen sind komisch, weil hoffnungslos überfordert; mit ihren dürftigen Kräften stehen sie im grotesken Mißverhältnis zur omnipräsenten Sinnsuche. Leider gelingt es Sigurdardóttir nicht, das Tschechowsche Thema in der unvergleichlich lakonischen Treffsicherheit des Dichters auf den Punkt zu bringen: „Offen und direkt gesagt, das Leben, das wir führen, ist idiotisch.“



Gary Shteyngart: Handbuch für einen russischen Debütanten. Aus dem amerikanischen Englisch von Christiane Buchner und Frank Heibert. Berlin-Verlag 2003. 490 Seiten.

Und täglich grüßt das Murmeltier

„Tja, wo war er zu Hause? Vladimir musste tatsächlich einen Augenblick überlegen.“ Denn Vladimir Girshkin, der Romanheld des „Handbuch eines russischen Debüttanten“ von Gary Shteyngart ist, wie der Autor, als Sohn mehrerer Welten nirgendwo richtig zu Hause. In Leningrad aufgewachsen, als Junge mit seiner Familie jüdischer Herkunft nach New York ausgewandert, sucht er vergeblich seine Identität zwischen Osten und Westen, Kommunismus und Kapitalismus, christlicher und jüdischer Religion. So landet der Fünfundzwanzigjährige nach seinem Studium erst einmal auf einem Job beim „Emma-Lazarus Verein zur Förderung der Immigrantenintegration“. Dort lernt er Mr. Rybakow und seinen besten Freund, den Ventilator, kennen. Der Psychiotiker wird zur Schlüsselfigur eines ganzen Panoptikums skurriler Figuren: von Challa, einer prallen Vorstadtdomina mit knallorangenen Haaren und Francisca, der verkorksten Tochter der reichen Ruoccos über den schwulen Katalanen bis hin zum „Murmeltier“, dem im russischen Prawa als Mafiaboss agierenden Sohn Mr. Rybakows. Hier nämlich verdingt sich Vladimir, als er vor finanziellen Problemen in die stolowakische Stadt flüchtet, um dort, quasi als Doppelagent, den amerikanischen Touristen systematisch das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ein höchst amüsanter Revolverroman, der mit viel Selbstironie die zwei Welten in einer gelungenen literarischen Groteske porträtiert. Intelligent, witzig und mit viel Talent für szenische Komik geschrieben.

 


Hans-Hermann Sprado: Risse im Ruhm. Solibro 2005. 304 Seiten.

Fiktiver Journalisten-Thriller

Hamburg. Kaufhausüberfall mit Geiselnahme. Die Geiselnehmer drohen, mit dem Nazi-Gas Zyklon B überall in der Stadt öffentliche Gebäude zu verseuchen. Star-Reporter Michael Mammen wird für die Boulevard-Zeitschrift ARENA an den Tatort geschickt. Dort wird er vom Beobachter zum Betroffenen, als er unter den Geiseln Frau und Tochter entdeckt. Und er ist noch mehr involviert: Die Geiselnehmer scheinen ihn zu kennen. Also sucht er tief in seiner Vergangenheit nach einem Fixpunkt, wo sein Weg sich mit dem der Gangster gekreuzt haben könnte. Erinnerungen an frühere Recherchen tauchen auf. Bilder von Russen, Kalaschnikows, waffenverkaufende japanische Yakuzas, Alt-Nazis in Brasilien, Straßenkinder aus den Favelas, Berliner Bordell-Szenen. Nur: Wo ist die Ver-knüpfung? In zeitlichen Sprünge zwischen Gegenwart und Mammens Erinnerungen setzt sich das Puzzle stückweise zusammen. Dennoch kann Autor Hans-Hermann Sprado die Spannung nicht bis zum Schluss aufrechterhalten. Auch wenn Sprado, selbst Journalist mit Erfahrungen in der Boulevardpresse, in seinem Debüt mit Reißer-Themen um das Leser-Interesse wirbt.

 


Miral al-Tahawi: Gazellenspuren. Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Unionsverlag 2006. 144 Seiten.

Gazellenspuren in der Wüste

Ihre Welt ist von Männern bestimmt und von Frauen geprägt. Ein Rätsel, das sich nicht auflösen lässt. Genauso wenig wie das Geheimnis um die Identität der Mutter. Die kleine Muhra wächst, wie die ägyptische Autorin Miral al-Tahawi selbst, als Kind von sesshaft gewordenen Beduinen in einem Wüstendorf auf. Über Fotos und Erzählungen ihrer Großmutter versucht sie sich der Familiengeschichte und ihrer Herkunft zu nähern. Eines der Bilder zeigt drei Schwestern. Zwei davon könnten ihre Mutter sein. Denn beide wurden mit ihrem Vater verheiratet. Sein Selbstverständnis speist sich aus der ruhmreichen Stammesgeschichte von Nomaden, die sich erfolgreich auf Araberzucht und Falkenjagd verstanden. Ein Standesbewusstsein, das in einer Zeit, wo mit Range Rovern und GPS gejagt wird, längst seine Berechtigung verloren hat. Zwischen diesen zwei Welten muss auch Muhra ihre Position finden. Aber ihre Suche bleibt, wie die unauflösbare Geschichte der „Gazellenspuren“ selbst, unabgeschlossen. Eine orientalisch verschlungene Erzählung, von der, auch wenn sie sich manchmal ins Episodische verliert, eine starke poetische Kraft ausgeht.

 


Linda Verhaelen: Das Leben als Zumutung. Haffmanns 2004. 576 Seiten.

„Sex and the city“ im Rheinland

Linda Verhaelen verlagert in „Das Leben als Zumutung“ die Kultserie „Sex and the city“ von New York in die spießige rheinische Landeshauptstadt. In direkter Fortsetzung des Romans „Mein Leben als Schlampe“ flüchtet Hauptfigur Nelly Scott nach ihrem ausschweifenden Sexualleben von München ins „miefige“ Düsseldorf. Seit der letzten erotischen Pleite hat sie von den Männern endgültig die Nase voll. Die chaotische Nelly mit dem „Webfehler in der Birne“ nimmt einen langweiligen Bürojob an und verordnet sich strikte Abstinenz vom anderen Geschlecht. Aber die Anti-Liebeskummer-Therapie schlägt fehl. Wie ihre TV-Leidensgenossinnen stolpert sie weiter von einer amourösen Eskapade in die nächste. Und ihr vermeintlich ruhiger Arbeitsplatz entpuppt sich als wahres Horrorkabinett intriganten Bürolebens. Frech, flott und flapsig werden sowohl die absurden Affären mit iranischen Fernsehelektronikern, depressiven Ex-Bankern und trinkfreudigen Arbeitslosen als auch Nellys skurriler Büroalltag karikiert. Schade nur, dass sie am Ende doch mit Liebhaber Ralf in den Hafen der Ehe einschifft.

 


Vladimir Vertrlib: Letzter Wunsch. Deuticke 2003. 389 Seiten.

Zwischen den Spiegeln

Vladimir Vertlib verortet seinen neuen Roman in der fiktiven Kleinstadt Gigricht im Deutschland der Gegenwart. Dort spielt sich anlässlich des Todes von Daniel Salziner, dessen „Letzter Wunsch“ es ist, auf dem jüdischen Friedhof neben seiner Frau begraben zu werden, eine tragisch-komische Posse ab. Am offenen Grab wird die Zeremonie abgebrochen, als eine Mitarbeiterin der Israelischen Kultusgemeinde mitteilt, dass der Tote nach orthodox jüdischem Verständnis kein Jude war: Der Übertritt seiner Familie zum Judentum sei von einem Reformrabbiner vorgenommen worden und daher ungültig. Für Sohn Gabriel, der gegen alle Widerstände den Wunsch des Vaters erfüllen will, der Beginn einer Reihe skurril-trauriger Verwicklungen rund um die Leiche. Und die Konfrontation mit der eigenen jüdisch-deutschen Identität, in der er sich „zwischen den Spiegeln gefangen“ sieht. Denn Gabriel stößt im Mikrokosmos von Gigricht, in dem sich die Vergangenheit des Holocaust und die Gegenwart aus latentem Antisemitismus und disparatem Judentum prototypisch verdichten, wie in einem Spiegelkabinett auf immer neue Zerrbilder der eigenen Herkunft und  des gegenwärtigen Judentums.

 


Enrique Vila-Matas: Risiken & Nebenwirkungen. Aus dem Spanischen von Petra Strien. Nagel & Kimche 2004. 351 Seiten.

Lektüre mit Nebenwirkungen

„Risiken & Nebenwirkungen“, der jüngste Roman des spanischen Autors Enrique Vila-Matas, ist jetzt in deutsch erschienen. Der literaturkranke Kritiker Rosario Girondo sucht nach einem Mittel, das ihn von seinem Leiden kuriert. Heilung verspricht er sich ausgerechnet vom Schreiben eines Tagebuchs. Eine Obzession, die sich kontinuierlich zum Roman auswächst, welcher sich zu allem Überfluss auch noch reflektiert, als Girondo ihn um ein Lexikon von Autoren intimer Tagebücher erweitert. Kein Wunder, dass er sich schließlich selbst in Literatur zu verwandeln und vollständig im Text zu verschwinden droht. Augenzwinkernd strukturalistische Literaturtheorien parodierend, lässt Vila-Matas seinen allzu belesenen Helden dabei mit voller Hand aus dem immensen Fundus seiner umfangreichen literarischen „Handbibliothek“ schöpfen. Die multiperspektivische Parallelerzählung mixt Fiktion, Literatur und Realität spielerisch und mit zunehmender Dynamik zu einem höchst ironischen Literaturcocktail. Intelligent, amüsant, aber auch zeitweise ermüdend.

 

 

Lucino Visconti: Angelo. Schirmer und Graf 2006. 178 Seiten.

"Angelo“ – Luchino Visconti als Autor

Ein Torso mit nur angedeuteten Versprechungen kann die Perfektion eines vollkommenen Kunstwerks übertreffen. So auch Luchino Viscontis Romanfragment „Angelo“. Der frühe Prosaentwurf des berühmten Regisseurs von Filmen wie „Der Leopard“ oder „Tod in Venedig“ wurde jetzt von seinen Erben freigegeben. Das Erzählfragment des vor allem durch seine Literaturverfilmungen bekannt gewordenen Cineasten beeindruckt trotz oder vielleicht sogar gerade wegen seiner Unabgeschlossenheit. Es überzeugt durch die für Viscontis Filmsprache charakteristische akribische Beschreibung von Örtlichkeiten und Figuren und die typische Ausführlichkeit von Nebenszenen und Rückblenden. Im Mittelpunkt steht der ungefähr vierzehnjährige Angelo. Ein zarter empfindsamer Junge, der nach zweimonatiger Typhuserkrankung geschwächt aus der Klinik in den ärmlichen Haushalt der mittellosen Familie zurückkehrt. Unnachahmlich schildert Visconti Angelos Fahrt in der Pferdekutsche, die Ankunft in den Gassen von Piacenza, die Läden, Krämer, Geräusche und Gerüche, die kindliche Erinnerungen und Fantasien von ungewöhnlicher sinnlicher Intensität und atmosphärischer Dichte heraufbeschwören.

 


Michael Wildenhain: Russisch Brot. Klett-Cott 2005. 272 Seiten.

Muckefuck oder Der Krieg ist nicht vorbei

„Nachts, wenn ich aus einem Traum auffuhr und nicht mehr einschlafen konnte (...) überkam mich das Gefühl, nicht mehr vorhanden zu sein“, konstatiert der jugendliche Held in Michael Wildenhains „Russisch Brot“. Diese „Abwesenheit“ des weitgehend namenlosen Ich-Erzählers korrespondiert mit seiner Beobachter-Perspektive. Er bleibt Zuschauer beim Fussballspiel, horcht mit Cousine Doris vom Dachboden der großväterlichen Ostberliner Laube den Familiengesprächen, und verfolgt aus einem Waldversteck, wie seine Mutter einen fremden Mann küsst. Schließ-lich ist er Zuhörer, als seine Mutter ihre ganze Geschichte preisgibt – hinter verschlossener Tür am Grenzübergang zwischen Ost- und Westberlin. Was Joachim bis dahin nur aus Kindheitserlebnissen, Erinnerungsüberlagerungen und Lebensberichten bruchstückhaft rekonstruieren konnte, ist jetzt Gewissheit: Hinter der kleinbürgerlichen Welt der sechziger Jahre mit Russisch Brot, Hage-buttentee und Muckefuck lauert die Vergangenheit: Krieg, Tod, Vertreibung und Trennungen, die sich in Deutschlands Teilung fortsetzen. Leider bleibt die Erzählung letzlich seltsam traumverloren diffus und unprägnant.

 


Der Schatten des Windes. Carlos Ruiz Zafón. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. Insel Verlag 2003. 527 Seiten

Zufälle – Narben des Schicksals

Barcelona im Jahr 1945. Der zehnjährige Daniel wird von seinem Vater, einem verwitweten Antiquar, zu einem geheimen Ort geführt: dem „Friedhof der Vergessenen Bücher“. Im verborgenen Labyrinth der Bibliothek darf er ein Buch auswählen, für das er eine Patenschaft übernimmt. Hinter dem Buch „Der Schatten des Windes“ von Julián Carax, öffnet sich für ihn ein ganzes Universum. Auf der Suche nach dem verschollenen Autor und seinen Büchern gerät der Protagonist mitten in die fiktive Geschichte hinein und wird vom unbeteiligten Leser zum Akteur. Nach einem unerklärlichen geheimen Plan wird er mehr und mehr in die Welt Carax verwickelt, bis die Grenze zur Realität nahezu vollständig verwischt. „Ich glaube, nichts geschieht aus Zufall. Im Grunde hat alles seinen geheimen Plan, auch wenn wir ihn nicht verstehen.“ Autor Carlos Ruiz Zafón entwickelt einen spannende Kriminal- und Liebesgeschichte, die vor dem Hintergrund der Straßen und Plätze Barcelonas spielt und von der Faszination und den Glauben an die Macht der Bücher erzählt. So wundert es nicht, dass die Erzählung, am Ende beim Anfang anknüpfend, sich zum Zirkel schließt, als Daniel, nun selbst Vater, seinen zehnjährigen Sohn Julián zum „Friedhof der Vergessenen Bücher“ führt.

 

 

Zweitausendeins Lexikon des Internationalen Films. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2002, 4.800 Seiten.

„Wie hieß noch gleich ...?!?“ oder
„Alles was Sie schon immer über Filme wissen wollten“

Wie hieß noch gleich der unvergleichliche Hauptdarsteller der frühen Aki-Kaurismäki-Filme, der Mann des langen Schweigens? Wie viele Filme hat eigentlich der produktionswütige Woddy Allen gedreht? Wie lautete noch mal der Titel des legendären Klassikers von Luc Godard mit Jean Paul Belmondo, und wann wurde er eigentlich gedreht?
Auf beinahe alle Fragen finden Filmfans in dem 7 kg schweren, 60.000 Einträge mit 52.000 Filmen umfassenden „Lexikon des Internationalen Films“ eine Antwort. Auch für echte Cineasten, die beispielsweise nach dem Produzenten, Filmverlag , Cutter oder dem Komponisten der Filmmusik suchen oder die sich für das Datum der Erstaufführung in den unterschiedlichen Fernsehkanälen interessieren, ist das Nachschlagewerk unverzichtbar.
Denn kaum ein anderes Werk führt so umfassend und detailgenau durch über 100 Jahre Filmgeschichte wie das von Zweitausendeins vom Rowohlt-Verlag übernommeine, neu aufgelegte und um 12.000 Filme ergänzte vierbändige Lexikon. Ein absolutes Standardwerk, das ausführliche Profidaten zu Produktion und Verleih, Entstehungsdaten und die wichtigsten Mitwirkenden durch sauber recherchierte, präzise und ehrlich formulierte Kurz-Beschreibungen des katholischen film-dienstes ergänzt. Auch Bewertungsinformationen und Hinweise auf Video- und DVD-Ausgaben sind verzeichnet. Insgesamt finden sich über 160.000 Regisseure, Drehbuchautoren, Kameraleute und Hauptdarsteller zu Filmen, die seit 1945 im Kino, auf Video oder im Fernsehen in der Bundesrepublik, der DDR und in Gesamtdeutschland bis zum Redaktionsschluss im Dezember 2001 Premiere hatten.
Ein kleiner Nachteil: Die eingestreuten neuen Leseinseln mit mehr als 130 Berichten, Essays und Debattenbeiträgen zu Kino, Genres und Filmästhetik sind einerseits bei konkreter Suche kaum zu finden, andererseits bei der Recherche nach Lexikoneinträgen äußerst störend. Und noch zwei Verbesserungshinweise: Einen zusätzliche Suchservice würde die Einführung einer Randkennzeichung der Buchstabenbereiche bieten; außerdem wünschenswert wäre die Angabe von konkreten Seitenzahlen zu den Einträgen im Indes.
Die buchstäblich gewichtigen fadengebundenen schmucken Leinenbände finden natürlich auf cineastischen Kino-Reisen kaum Platz. Aber auch daran hat der Verlag Zweitausendeins gedacht und das Buch-Projekt um eine rund um die Uhr und Welt verfügbare Online-Datenbank erweitert, deren Zugriff für Käufer des Lexikons zwölf Monate lang umsonst ist.
Ein großes Plus der Internet-Ausgabe sind nicht nur die ständige Erweiterung durch 14tägige Aktualisierung, sondern auch die  komfortablen Suchfunktionalitäten. Es kommen ständig neue Kritiken hinzu und die Verlinkungen erlauben eine optimale Verknüpfung aller Personen und Filme untereinander. Zusätzlich sind rund 7.000 lange Filmtexte verfügbar, die im Print nicht zu finden sind. Und noch ein Bonus: Alle zwei Wochen kann sich der Abonnent über den Kino- & TV-Butler via E-Mail über Kritiken zu neuen Kinofilmen, Fernsehproduktionen, Hinweise zu DVD-Neuerscheinungen oder Festivalberichte nach persönlicher Vorauswahl informieren lassen.
Ein Optimierungsvorschlag: Die Recherche wird etwas mühsam dadurch, dass sich die Seite nach einer Suchanfrage und beim Blättern immer komplett neu „aufbaut“. Außerdem wäre bei Suche z.B. nach allen Filmen eines Regisseurs eine erste Übersicht nur mit Titeln und Erscheinungsjahr wünschenswert, um erst nach Klick zu den weiterführenden Informationen zu kommen. Und noch ein Wunsch: Die Scrollbarkeit der A-Z-Liste aller Kategorien würde die Suche erheblich erleichtern.
Insgesamt sind die Neuausgabe des Lexikons und der Aufbau der Online-Datenbank ein großes Verdienst des Zweitausendeins-Verlages, für den die Aktualisierung des Nachschlagewerkes das größte Projekt der über 30jährigen Verlagsgeschichte darstellt. Für den Herrausgeber, das Kölner „Katholische Institut für Medieninformationen“, ist der Lexikon-Neustart mit Zweitausendeins vor allem durch die zeitgemäße Internet-Präsentation ein wichtiger Schritt zu einer breiteren Öffentlichkeit.
Alles in allem ist das Standardwerk ein Muss für alle Filmfans und unverzichtbar für jeden Cineasten.

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