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Verlöschende Sternengeburt

Jürgen Lagger: Öffnungen. Ein Maßnahmenkatalog. Droschl 2005. Gebunden. 128 Seiten.
Sendung vom 20.09.2005 im Deutschlandfunk

Zweitveröffentlichung vom 27.06.2005 im Titel-Magazin
titelmagazin.com/artikel/5/2323/j%C3%BCrgen-lagger-%C3%B6ffnungen.html
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Schon seine ersten Publikationen in Literaturzeitschriften und Anthologien sowie das Debüt „Kreuzblütler“ zeigen eine Neigung zum Experimentellen. Mit seinem neuen Buch „Öffnungen“ stellt sich der österreichische Schriftsteller Jürgen Lagger jetzt ganz bewusst in die Tradition des literarischen Experiments.


Es ist ein Experiments der Form, Sprache und des Bewusstseins. „Öffnungen“ knüpft dabei formal augenfällig an Ernst Jandls Sprechoper „Aus der Fremde“ an. Lagger hält wie Jandl trotz experimenteller Formbrüche nicht nur strikt die Einheit von Ort, Zeit und Handlung nach dem Ideal des klassischen Dramas ein. Wie beim Theaterstück des österreichischen Lyrikers herrscht auch hier das von grotesker Komik gebrochene Tragische vor. Auch Lagger lässt eine dritte Person in einem inneren Monolog aus großer Distanz von und zu sich selber sprechen. Wobei der Er-Erzähler analog zu „Aus der Fremde“ sagt, was er tut, während er tut, was er sagt. Ebenso auffällig der sich gleichende grammatische Befund. Der dort wie hier verwendete unbedingte Konjunktiv mit seinem emphatischen voluntativen Charakter und einer identischen Intention, die Jandl in seinem Stück wie folgt beschreibt:
„wobei konjunktiv ebenso / wie dritte person / ein gleiches erreichten // nämlich objektivierung / relativierung / und zerbrechen der illusion“

Drastische sprachliche Kunstmittel

Hinzu kommt der elliptische Telegrammstil und das untypische, durch Inversionen verstärkte emotionale Sprechen, auffällig in den systematisch an den Satzanfang gestellten Verben. Drastische sprachliche Kunstmittel, durch die eine von der Normalsprache entfremdete kunstvolle wie künstliche Sprechweise entsteht. Ein Beispiel:
„Könne man bei tiefergehender Zerteilung nicht einmal von verschiedenwertigen Oberflächen sprechen, geschweige denn durch Verleihung von Namen/ Nummern, eine Hierarchie erzeugen: stünde man nach dem Schälvorgang vor einem unübersehbaren Haufen hauchdünner Erkenntnisschichten, unterschiedlicher Beschaffenheit zwar, aber dennoch: innen wäre die Zwiebel völlig leer.“

Ein Sprechen, das durch den archaischen Klang des veralteten Konjunktiv-Gebrauchs singend, beinahe predigend wirkt. Ein starkes musikalisches Moment, das bei Jandl durch die dreizeilige Versform, bei Lagger durch das rhythmische Gliedern des Textes mit Taktstrichen verstärkt wird. Beide Werke bewegen sich bewusst auf der Schwelle zwischen Lyrischem, Epischem und Dramatischen.

Aber worum geht es jenseits des Form- und Sprachexperiments in „Öffnungen“? Auch hier gibt es Parallelen: Beide Helden befinden sich in einer akuten Sinnkrise. Die literarischen Bemühungen sind der Versuch einer schonungslosen Analyse der eigenen Sprach-, Bewusstseins- und Körperprozesse. „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ – der Titel der Frankfurter Poetik-Vorlesungen Ernst Jandls – verweist auf Sprechen und Schweigen, auf Geburt und Tod und die unausweichliche Sinnfrage. „Öffnungen“ von Jürgen Lagger ist der von vorneherein zum Scheitern verurteilte Versuch einer regressiven Sinngebung. Über die Rückkehr zu einem Ursprung, der vor allen Öffnungen liegt. Auf der Suche nach einem Neuanfang jenseits vom „Öffnen und Schließen des Mundes“, visionär von L. beschrieben in einem Absatz „über Neues“:
„Oder: wäre da, wenn auch unmöglich, neu schon eher: Rückläufiges auszulösen / gegenläufig etwas gänzlich zurückzuführen auf den einen / den ihm eigentümlichen Entstehungspunkt: dabei sein schließlich bei verlöschender Sternengeburt.“

Verschluss-Maßnahmen

Jürgen Laggers Held L. entwickelt dazu einen „Maßnahmenkatalog“, wie der schon der Untertitel ankündigt. Nur welche Maßnahmen und wozu? Es geht um „Öffnungen“ und darum, sie zu verschließen. Es geht um den Helden L. und das radikale Experiment, sich von der Außenwelt zu isolieren. Systematisch versiegelt er alle Türen und Fenster seiner Wohnung mit Dichtungsmitteln. Isolierung: der perfekte Weg zur Selbsterkenntnis? Nein, denn nach wie vor dringen Vögel ein, Mäuse, Ameisenvölker. Körper, Tod und Verwesung, die in Zwischenräumen und hinter Unsichtbarem lauern. Gibt es eine Alternative? L. entscheidet sich für die kompromisslose Reduktion. Die Selbst-Reduktion. Er entledigt sich vollständig seiner Gliedmaßen. Fast vollständig, denn groteskerweise gelingt es L. mit dem verbliebenen Arm nicht, sich nach der Entmannung zum Schluss auch noch selbst zu enthaupten. Vom Badewannenrand glücklicherweise geköpft, kehrt er schließlich, aufgedunsen von zuletzt eingespritztem gelbem Dichtungsmittel, zur Urform, dem Ei, zurück. Womit ihm also der Weg zurück zum Ursprung und damit die Erkenntnis der absoluten Wahrheit gelungen wäre?

Das Ergebnis wäre absolut, wahr und schön wie „Der wahre Vogel“ in Jandls gleichnamigem Gedicht, der einem ähnlich schwarzhumorigen Unterfangen zum Opfer fällt, wenn das lyrische Ich dazu auffordert:
„fang eine liebe amsel ein / nimm eine schere zart und fein / schneid ab der amsel beide bein / amsel darf immer fliegend sein (...) das müsst ein wahrer vogel sein / dem niemals fiel das landen ein"
Wie der Versuch, einen wahren Vogel durch Beschneidung der Beine zu kreieren, müssen naturgemäß auch L.s pathologische Bemühungen um Selbstreduktion zwangsläufig scheitern, wie L. in einem Kapitel „über Oberflächen“ selbst voraussieht:


„Schälte man selbst den Körper, eigenen: zöge man sich / ihm die Haut vom Leibe / über die Ohren auf der Suche nach seinem Kern, so böten sich nur wieder neue / unterschiedliche Oberflächen; lediglich das Auge des Betrachters bestimmt die gerade aktuelle, so L., die meist nahtlos damit einhergehende Erhebung dieser zur allgemein gültigen sei eine gewiss zweifelhafte Methode.“

Auch wenn er im Laufe des Prozesses in seinen akribisch fortlaufend nummerierten Abhandlungen „über Öffnungen“, „über Zwischenräume“, „über Muster, „über Oberflächen“, „über Neues“ und natürlich auch „über Eier“ zu einigen tiefsinnigen philosophischen Erkenntnissen gelangt. Erkenntnissen von höchster Abstraktion und großem existenziellen Pathos, dem Jürgen Lagger – auch hier wieder eine Analogie zu Jandl – mit der extremen Künstlichkeit theatralischen Sprechens und einer drastischen Körperprosa begegnet.

Jürgen Lagger hat mit „Öffnungen“ ein sprachliches Experiment in der österreichischen Tradition gewagt, das über weite Strecken gelungen ist, ohne jedoch an die Eindringlichkeit und Lakonie von Jandls „Aus der Fremde“ heranreichen zu können.

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