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Ein Leben als Nichtschwimmer

Rolf Lappert: Nach Hause schwimmen. Hanser 2008. 544 Seiten.

Kurzrezension im Rheinischen Merkur

 

Sein Leben passt in Colms alten Koffer: der Spielzeug-Indianer auf dem Pferd, ein Nilpferd aus Ton und eine Handvoll Fotos und Briefe. Nicht viel zu verlieren und noch nicht einmal genug, um neu anzufangen. Zwei gute Gründe, nie wieder aufzutauchen, als er, kaum zwanzig, von einem Steg in den Ozean vor Coney Island springt: Wilbur, der Nicht-Schwimmer mit chronischer Angst vor Wasser, der sich scheut, unter die Dusche zu gehen und Getränke nur mit einem Trinkhalm zu sich nimmt. Er könnte nach Hause schwimmen. Zu Hause: das ist Irland, wo er bei Großmutter Orla aufgewachsen ist. Vielleicht würde er sich dann mit seiner Geschichte versöhnen: mit der Zeit vor jeder Erinnerung, als seine Mutter in Philadelphia bei der Geburt stirbt und er ins Heim kommt, weil sein schwedischer Vater ihn im Krankenhaus zurücklässt; mit den glücklichen Jahren bei der geliebten Orla, wo er sich mit Freund Conor vom Hügel aufs Meer hinausträumt; mit Orlas tödlichem Unfall, nach dem Farmer Colm ihn zu sich auf den Hof holt; mit seinem Leben bei bigotten Pflegeeltern, als er beim alten Matthew Cello spielen lernt; mit der vergeblichen Suche nach seinem Vater in Schweden; mit dem Aufenthalt im Erziehungsheim „Four Towers“ wegen seines Amoklaufs nach Colms Tod; mit seinem Leben in den USA bei Alice Krugshank, der Pflegemutter seiner ersten Lebensmonate; mit dem Auffinden seines Vaters, der kurz zuvor durch einen Schlaganfall Sprache und Gedächtnis verloren hat; mit Aimee, der Schwester aus der Klinik für verhinderte Selbstmörder, der er nicht sagen kann, dass er sie liebt … Wenn er nach Hause schwimmen könnte, vielleicht würde er dann mit seiner Vergangenheit leben können. Aber das Meer vor Coney Island liegt ohne Horizont vor ihm, und zwei Angler fischen ihn rechtzeitig heraus.

 

„Nach Hause schwimmen“ heißt der fast 550 Seiten starke Entwicklungsroman über den klein gewachsenen Wilbur Sandberg. Zwei Erzählstränge – der eine von der Geburt bis zum Selbstmordversuch und der andere über die Zeit danach – hat der Schweizer Autor Rolf Lappert kunstvoll miteinander verwoben. So geschickt, dass man als Leser nie den Überblick und die Geschichte nie an Spannung verliert. Entlang den nach Filmen von Bruce Willis’ benannten Kapiteln – er ist Will’s Kinoidol – verschränkt Lappert Wilburs Lebensphasen. Besonders stark erzählt ist Wilburs Kindheit in Irland – seine Verlorenheit und Sprachlosigkeit vor Trauer um Orla und Colm, seine Verschlossenheit gegenüber der restlichen Welt. Lappert hat Wilburs überzeugende Innensicht eng mit atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen Irlands verwoben. Die leere Weite des Himmels über dem endlosen Meer und den kargen Hügel spiegeln Wilburs Einsamkeit. Voller Humor und mit John-Irvingschem Sinn für szenische Komik dagegen ist Wilburs Leben im von skurrillen alten Männern bewohnten amerikanischen Hotel erzählt. Genau diese Mischung aus tragischen und leichten Momenten macht Rolf Lapperts „Nach Hause schwimmen“ besonders lesenswert.

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