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"Jede unserer Erkenntnis beginnt mit dem Sinnen"


Leonardo da Vinci: Der Esel auf dem Eis. Miniaturen. Übersetzung aus dem Italienischen von Rudolf Hagelstange. Unionsverlag 2015. 128 Seiten.
Beitrag vom 23. Dezember 2015 im Deutschlandfunk, Büchermarkt, Moderation Hubert Winkels

Beitrag hören (Zitate gesprochen von Christoph Wittelsbörger vom DLF-Sprecherensemble)

 

 

„Jede unserer Erkenntnis beginnt mit dem Sinnen“, schreibt Leonardo da Vinci in einem seiner Notizbücher. Hier notiert er auch seine Fabeln. Es sind Miniaturen, die zum Sinnieren anregen. Viele seiner Tier- und Pflanzengeschichten erzählen von menschlichen Schwächen. Ein Feigenbaum lacht mit all seinen Feigen über die Missgunst des Kastanienbaums. Eine allzu offenherzige Auster himmelt mit geöffnetem Mund die ganze Nacht über den geliebten Mond an. Ein ehrgeiziger Pfirsichbaum trägt vor Neid auf den übervollen Nussbaum so viele Früchte aus, dass er unter der Last zusammenbricht. Eine hochmütige Zeder duldet aus Herrschaftssucht keinen anderen Baum neben sich und fällt deshalb ohne Schutz einem Wirbelsturm zum Opfer. Ein eitles Hermelin will sein schneeweißes Fell nicht in seiner Höhle beschmutzen und wird daher von Jägern getötet. Auch das Wasser, das vom Naturforscher Leonardo am meisten geliebte und erforschte Element, muss für seine Hoffart bezahlen:

 

Eines Tages wurde das Wasser, das sich in seinem Element, das heißt im stolzen Meer befand, von dem Verlangen ergriffen, zum Himmel aufzusteigen.
Es wandte sich also an (…) das Feuer, und bat um Hilfe. Das Feuer willigte ein, und mit seiner Hitze ließ es das Wasser leichter als die Luft werden und in hauchfeinen Dampf übergehen.
Der Dampf stieg zum Himmel, höher und höher, bis in die dünnsten und kältesten Schichten der Luft, wohin das Feuer nicht mehr folgen konnte.

 

Vor Stolz geschwellt in den Himmel gestiegen, wird das Wasser in der Kälte nun wieder schwerer als Luft. Als Regen fällt es zurück auf die Erde, wo es für lange Zeit im Boden versickert.
Für Naturgesetze wie diese findet Da Vinci in seinen Fabeln oft anschauliche Bilder. In der Titelgeschichte erzählt er von der Dummheit eines Esels, der auf dem zugefrorenen See einschläft. Mit seiner Körperwärme schmilzt er das Eis und ertrinkt. In einer anderen beschreibt da Vinci das Wunder der Verwandlung von der bescheidenen Raupe zum schönen Schmetterling. Ein Bild für das Geheimnis des Lebens. Darüber staunt auch die Ameise. Ein Weizenkorn bittet sie um Schonung. Dafür verspricht es reichen Lohn. Und tatsächlich: Die Ameise findet im nächsten Jahr hunderte Körner an der Stelle, wo sie das Weizenkorn vergraben hat.


Respekt vor der Natur predigt der überzeugte Tierschützer und bekennende Vegetarier da Vinci in seiner Fabel „Das Netz“: einer Vision vom konzertierten Aufstand der Fische gegen ihre Peiniger, die Fischer.

 

Das Netz wurde vom Grund aufgehoben (…), aber die erzürnten Fische ließen die Beute nicht fallen. Jeder mit seinem Stück Masche im Maul, mit Flossen und Schwanz schlagend, so zogen sie in alle Richtungen, um das Netz zu zerfetzen und zu zerbeißen, und gewannen so in dem Wasser, das zu kochen schien, die verlorene Freiheit zurück.


„Besser tot als die Freiheit verlieren“ lautet die Kampfansage da Vincis in „Der Stieglitz“. Der bunte Vogel tötet seine vom Bauern gefangenen Jungen selbst. Ihr Tod ist ihm lieber, als sie eingesperrt zu wissen. Leonardo da Vincis „Miniaturen“ handeln aber auch „vom Fressen und Gefressen werden“ innerhalb der Natur. In „Die Auster und die Maus“ überredet eine hinterlistige Maus eine Auster, ihre Schale zu öffnen. Um schließlich, mitsamt der Auster, von der Katze verschlungen zu werden. Eine Viper wird gar von ihren eigenen Kindern getötet. Gierig, auf die Welt zu kommen, zerreißen sie mit ihren Zähnen schon vor der Geburt den Bauch ihrer Mutter.


Gewalt und Tod in der Natur stehen in da Vincis Fabeln ihrer Schönheit und Poesie gegenüber. Als „Der Schwan“, seinen Tod ahnend, zu singen beginnt, ist die ganze Natur von seinem Gesang betört. In die außergewöhnliche Schönheit der Lilie verliebt sich sogar das vorbeifließende Wasser:


Am grünen Ufer des Flusses Ticino stand einst eine schöne Blume: eine Lilie. Hoch und schlank auf dem Stiel, spiegelte die Blume ihre weißen Blütenblätter im Wasser (…). Jede Welle, die vorbeirauschte, trug mit sich das Bild dieser weißen Blumenkrone und reichte die eigene Sehnsucht weiter an die Wellen, die noch kommen mussten, um sie zu sehen.

 

Nicht alle im Band mit dem Titel „Der Esel auf dem Eis“ versammelten Fabeln Leonardo da Vincis spielen in der Natur. Es finden sich auch Sinnbilder wie vom Blatt Papier, das sich zu Unrecht von der Tinte besudelt fühlt. Oder Moralgeschichten wie vom Rasiermesser, das sich aus Eitelkeit vor dem Barbier versteckt, um im Verborgenen unbenutzt vor sich hin zu rosten. Seinen besonderen Charme erhält „Der Esel auf dem Eis“ durch einige eingefügte Feder- und Rötel-Zeichnungen Leonardo da Vincis. Die Studien illustrieren zwar nicht direkt die Tier- und Pflanzenwelt der Fabeln. Aber in ihrer kunstvollen Ausführung bilden sie einen äußerst reizvollen Kontrast zu den eher schlichten Fabeln, die der Künstler in seinen Notizbüchern oft nur in Stichworten festgehalten hat, um sie später einmal auszuführen.

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